Green Mind

Schriften zu Zeitschriften: „du“ widmet ein Heft dem Land-Art-Künstler Richard Long und „Lettre“ beschäftigt sich mit der Willensfreiheit

Im Jahr 1967 spazierte der 22-jährige Kunststudent Richard Long so lange auf einer Wiese, bis im Gras die Spur seiner Schritte sichtbar wurde. Das war „A Line Made by Walking“. Seitdem ist das Gehen für Long fester Bestandteil seiner Kunst. „Vieles von dem, was ich tue, würden viele Leute sinnlos finden. Vielleicht ist das der Grund, warum sie keine Künstler sind, während ich einer bin“, sagt Long der Schweizer Kulturzeitschrift du, die ihre Mai-Ausgabe dem englischen „Land-Art“-Künstler zum 60. Geburtstag widmet.

Long sei der Erste gewesen, der Zeit, Raum und Entfernung in der Kunst zusammengebracht habe, schreibt du-Redakteurin Jacqueline Schärli. Seine Wege führen ihn oft in einsame Gegenden, ins Hochgebirge, zum Polarkreis oder in die Sahara. Und beim Durchmessen der Landschaft erzeugt Long aus dem dort Vorgefundenen vergängliche und zuweilen prähistorisch anmutende Skulpturen: Linien und Kreise aus Stein, Geröll, Schnee oder Fußstapfen. Dem Kunstpublikum wird dieses Treiben nur durch Longs Fotografien oder seine oft lakonisch formulierten Texte zugänglich. Oder durch seine „mud works“: Schlamm, den Long im Rucksack aus der Landschaft mitbringt und später in Schlieren und Spritzern auf farblich kontrastierenden Kartonagen anbringt. In dieser Mittelbarkeit der Kunst liegen für Schärli Emanzipation und bloßer Voyeurismus ironisch beieinander: „Die Faszination, die von Richard Longs Werken ausgeht, rührt daher, dass er stellvertretend läuft.“ Stellvertretend für alle, die den „Drang nach Freiheit, Klarheit und Natur“ verspüren: „Longs Arbeiten zu betrachten ist eine Form von modernem Ablasshandel.“

Weniger schuldbewusst findet der Kunsthistoriker Ian Wightman aus Plymouth in Longs Werken die Mitteilung von Welterfahrung durch Bewegung: „Es ist ein Prozess der Selbstinterpretation durch Bewegungsmuster, die ihm die Welt auf eigentümliche Art erschließen.“ Nicht allein der Zusammenhang zum Primitiven prähistorischer Stätten, sondern „das Werk als Modus menschlichen Markierens“ sei für Long charakteristisch: „Als Markierungen auf der Erdoberfläche schaffen Longs Skulpturen ebenso wie prähistorische Steinkreise Räume, deren architektonischen Charakter wir sofort erkennen.“

Die Grundelemente aus Linie, Kreuz und Kreis, die sich hier wiederfänden, ermöglichten es, seine Kunst in den Rahmen eines Arbeitsmodells für die Wahrnehmung und Artikulation von Raum zu stellen und so das menschliche Bedürfnis nach Orientierung in Raum und Zeit zu reflektieren. Dies geschehe immer als dialektischer Prozess von wahrnehmender Anpassung und gestaltender Veränderung: „So kann man erkennen, wie der existentielle Raum als mentales Konstrukt die physische Realität der menschlichen Existenz als architektonischen Raum verfestigt oder konkretisiert.“

Ironischerweise scheint solche Kunst als relativierendes Argument in der seit Jahren zwischen Transzendental- und Neurophilosophen tobenden Debatte um die menschliche Willensfreiheit zu taugen. Im Frühjahrsheft von Lettre meint der Berliner Pädagoge Jochen Erbmeier, dass es völlig überflüssigen Alarmismus auslöse, wenn das Ich sich im wissenschaftlichen Experiment als nur nachgängiges Konstrukt eines autokratisch regierenden Organismus erweise. Schon Kant habe seine Ethik nicht auf ein substantiell auffindbares Subjekt, sondern auf das Handeln gegründet. Doch irrtümlicherweise hielten Empiriker „das Ich für eine Substanz, und wenn es abhanden kam, wankte das Abendland“.

Erbmeier räumt durchaus ein, dass bedeutungstragende Verweisungszusammenhänge ein mentales Konstrukt seien. Das habe sich eben aus einer prähistorischen Notlage ergeben, als der Wald der Savanne gewichen sei und der Urmensch sich in einer für ihn unbestimmten Umgebung habe zurechtfinden müssen: „Darum nehmen wir gar keine Dinge wahr, sondern immer nur das, ‚was sie bedeuten‘.“ Dass die Grenzen der Sprache zugleich die Grenzen der Welt seien, betreffe nur die Welt der Mitteilbarkeit und ihr gemeinsames Symbolsystem: „Meine Welt hat andere Grenzen, denn in ihr können auch Bilder vorkommen, die nur sich selbst bedeuten.“ Keineswegs sei die Welt also nur alles, was der Fall ist: „Wovon ich nicht sprechen kann, darüber muss ich nicht schweigen: Ich kann es zeigen.“ Sollte man sich etwa bloß an den Rahmen sprachlicher Mitteilbarkeit halten?

Auch die empirischen Wissenschaften mit ihrer auf Logik basierenden „Ökonomie des Denkens“ sind für Erbmeier eigentlich nur ein konstruierter Verweisungszusammenhang. Hier wird er dann noch ideologiekritisch: „Die Kausalität ist, als eine säkulare Theologie, in Wahrheit der auratische Schimmer der bürgerlichen Gesellschaft. Sie gehört zum Bild der Natur als einer Haushälterin.“ Und damit wäre der qualitative Graben zwischen Naturwissenschaft und den Steinkreisen Richard Longs eingeebnet. JAN-HENDRIK WULF

du 756, 12 Euro, Lettre 68, 9,80 Euro