NOTIZBUCH
: Das Ich als Grabungsanlass

Der geschätzte Kollege Edo Reents hat neulich einiges Bedenkenswertes über die Inflation geschrieben, im erzählten Sachbuch „ich“ zu sagen – tatsächlich interessiert einen ja nicht jede zufällige Beobachtung auf Kinderspielplätzen in Prenzlauer Berg („Das Ich als Unverschämtheit“, FAZ v. 15. 3.). Nur der seltsam konservative Maßstab, den Reents formuliert, verwundert dann doch. „Autoren sollten entweder Außerordentliches erlebt haben, das nur ihnen zugänglich ist, oder vorher schon als Künstler in Erscheinung getreten sein“, bevor sie ich sagen dürfen, meint Reents. Aber das ist unter dem Niveau seiner eigenen Überlegungen gedacht. Im Wesentlichen weisen sie darauf hin, dass auch bei Ich-Geschichten Fragen des Stils, der Reflexionshöhe und der gedanklichen Durcharbeitung wichtig sind; und das stimmt ja auch. Aber warum es nur um Außerordentliches gehen soll, leuchtet nicht ein.

Eine der vielen Besonderheiten der modernen Gesellschaft besteht ja gerade darin, dass in ihr Individualität prinzipiell reflexionsnotwendig wurde. Das Ich lässt sich nicht mehr eins zu eins aus Traditionen oder gesellschaftlichen Zuschreibungen ableiten. Deshalb lesen wir doch so viel. Alle Bereiche des Lebens müssen immer wieder neu erzählt werden – von Vater-Sohn-Verhältnissen bis zu Geschlechterfragen, von Liebesdingen bis zu Identitäten. Und es ist gar nicht schlecht, damit bei sich selbst anzufangen, oder um es mit Fontane zu sagen: „Einen Brunnen [zu] graben just an der Stelle, wo man gerade steht.“

Nun kann man das gut oder schlecht tun, und man kann das Ich-Sagen auch dazu missbrauchen, sich selbst nur zu bestätigen. Das ist dann langweilig. Aber wie lehrreich, wenn es gelingt! Gerade bei alltäglichen Lebensbezügen. Wie kompliziert so ein Ich ist! Richtig graben muss man allerdings schon. drk