Hinterm Gartenei ein Leben

IDEOLOGIE UND EIGENSINN Das Buch „Alltag DDR“ schlüsselt Geschichte über Einzelobjekte auf und fördert dabei Beachtliches zutage

Bisweilen verkommt die DDR zum Quizkartenspiel, Puzzle und Witze-Kalender

VON BARBARA BOLLWAHN

Oft ist der Alltag grau und steht für Routine, Gleichförmigkeit, Trott. Dass das ganz normale Leben durchaus interessant sein kann, zeigt sich bei der vor mehr als 20 Jahren untergegangenen DDR. Nachdem jahrelang die Diktatur, die Funktionsweise und Auswirkungen des Ministeriums für Staatssicherheit bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet wurden, rückt mittlerweile zunehmend der Alltag des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates in den Vordergrund. Die Beschäftigung damit ist mittlerweile so angesagt, dass so gut wie alle Themen, die in irgendeiner Art mit der DDR zu tun haben, zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden.

Es gibt Bücher über das Essen und Trinken, das die Menschen in der DDR zu sich nahmen, über die Fernsehprogramme, die sie sahen, über Traktoren und Dieselloks, über Kinderspielzeug, über Sprachschöpfungen, die Briefmarken, die Philatelisten sammelten, die Leuchtreklame, die die Nächte erhellte, über Schausteller und Volksfeste und darüber, wie es mit Sex und Partnerschaft aussah. Selbst über die Jagd, die Entwicklung des Apothekenwesens, szenische Kammermusik, den Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung, die Hochseefischerei oder eine Esperanto-Jugendgruppe wurde publiziert. Bisweilen verkommt die DDR zum Quizkartenspiel, Puzzle und Witze-Kalender, so dass es nicht verwunderlich ist, wenn Jugendliche „coole“ T-Shirts mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz, „Held der Arbeiterklasse“- oder „Born in the DDR“-Aufdrucken tragen.

In dieser postsozialistischen Flut nimmt sich das Buch „Alltag: DDR“ umso angenehmer aus. Es ist als Begleitbuch der neuen Dauerausstellung im „Dokumentationszentrum für Alltagskultur“ in Eisenhüttenstadt erschienen, wo seit Ende Februar 650 Exponate aus den Jahren 1950 bis 1990 gezeigt werden. Das Buch ist ein Schwergewicht. Es wiegt gut zwei Kilogramm und schlägt einen großen Bogen von der Alltags,- Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der DDR über die Überpräsenz von Ideologie und Staat bis zum Eigensinn von Menschen. In zehn Kapiteln – Bildung, Arbeit, Konsum, Lebensweise, Milieus, Macht, Grenzen, Heimat, Familie, Kommunikation –, die jeweils aus einem Essay und interessanten Objektgeschichten bestehen, werden „das individuelle Gedächtnis und die historischen Rahmenbedingungen in Beziehung gesetzt“. Alle Objekte, die in dem Buch beschrieben und in der Ausstellung gezeigt werden, haben einen direkten Bezug zum Alltag der Menschen.

Zu den historischen Zeugnissen gehören so unspektakuläre Dinge wie farbige Brocken Glasschlacke als Produktabfall aus der Glasherstellung, Kleiderbügel, Hausaufgabenhefte, ein Bierkrug aus Holz mit einer eingebauten West-Bierbüchse, Büttenreden oder eine Geschirrspülmaschine. Spannend werden sie durch ihre Einordnung und die Angaben der Besitzer.

Schon im Kultstatus

So verbirgt sich hinter einem Studentenausweis der Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektrotechnik in Berlin Lichtenberg die Geschichte von Klaus-Peter S., der nach seinem Fachschulstudium wieder zu seinem Ausbildungsbetrieb zurückkehrte, dem VEB KIB in Berlin-Pankow. Bis zur Wende hatte er sich zum technischen Direktor hochgearbeitet. 1993 erwarb er von der Treuhand seinen ehemaligen Ausbildungsbetrieb zusammen mit zwei Kollegen. Die Firma gibt es heute noch.

Es gibt auch Objekte aus dem Alltag der DDR, die mittlerweile Kultstatus haben. Beispielsweise das „Gartenei“, ein Möbelstück, das es so eigentlich nicht geben dürfte. Entworfen wurde die aufklappbare Plastikschale, die einen gepolsterten Sessel in sich birgt und aus Polyurethan besteht, in Niedersachsen, wo sie nie in Serienproduktion ging. Das passierte erst in Senftenberg in der Lausitz. Ein Chemiker verkaufte Anfang der 70er Jahre sein Unternehmen an die BASF, die Polyurethan-Technik ging gleichzeitig in die DDR, die als Beigabe das Gartenei erhielt. Heute gilt das „Senftenberger Ei“ als begehrtes Designerstück. Zu DDR-Zeiten lag der Preis bei 430 Mark. Der Designer fertigt es jetzt mit großem Erfolg als „garden egg chair“ in den Niederlanden, für 2.100 Euro.

Die Zukunft des Dokumentationszentrums in Eisenhüttenstadt aber, das insgesamt über rund 150.000 Objekte verfügt und sich als „kollektives Gedächtnis der DDR-Alltagsdinge“ versteht, ist ungewiss. Eisenhüttenstadt hat den städtischen Zuschuss von gut 76.000 Euro ab dem kommenden Jahr gestrichen. Die Kommune teilt sich die Finanzierung mit dem Land Brandenburg, dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur und dem Landkreis Oder-Spree. Die Verantwortlichen sind derzeit im Gespräch, heißt es. Es wäre ein schlechter Witz der Geschichte, wenn die einzigartige Darstellung des Alltags im Osten an den Sparzwängen des Alltags im Westen scheitern würde.

Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e. V.: „Alltag: DDR. Geschichten, Fotos, Objekte“. Ch. Links Verlag, Berlin 2012, 336 S., 19,90 Euro