Hurra, hurra, die Schule streikt

Sachsens LehrerInnen sollen nur noch 60 Prozent ihrer Arbeitszeit leisten – und mit entsprechend weniger Gehalt auskommen. Schuld sind der dramatische Schülerrückgang und Kultusminister Flath. Die Lehrer sind Angestellte, sie streiken für mehr Geld

AUS LEIPZIG ANNA LEHMANN

Das ist ihnen noch nie passiert: die Schule ist zu, und das mitten in der Schulzeit. Drei Teenager stehen ratlos vor ihrer Mittelschule im Süden von Leipzig. Ein grauhaariger Hausmeister ruft durch die spaltbreit geöffnete Tür des Sekretariats: „Bis zur dritten Stunde ist Streik. Kommt zur vierten wieder.“

In ganz Sachsen hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft zum Ausstand aufgerufen. Im Freistaat ist Lehrerstreik möglich, weil die Pädagogen zu 100 Prozent Angestellte und keine Beamten sind. Allein in Leipzig hatten gestern wegen des Streiks 20.000 Schüler drei Stunden Pause – bis auf jene, die gerade Abitur schreiben.

Ihre Lehrer treffen sich am Augustusplatz im Zentrum der Stadt zum Protest. Im kalten Wind morgens um 8 Uhr drücken sie die Aktentaschen fester gegen die Brust oder rücken in Grüppchen zusammen. Seit einem Monat verhandelt die GEW schon mit dem sächsischen Kultusminister. Aber der oberste Dienstherr der Lehrer, Steffen Flath (CDU), will jede fünfte Lehrerstelle einsparen, insgesamt rund 7.500. Entlassen werden soll niemand, bis auf wenige Ausnahmen sollen die Pauker nur noch 60 Prozent arbeiten. Das heißt statt bisher 26 Pflichtstunden werden pro Lehrer bis 2012 nur noch 16 anfallen. Die Frage ist: Wie sollen LehrerInnen davon überleben? Die Gewerkschaft hat das zurückgewiesen. GEW und Tarifunion fordern deutlich über 80 Prozent Arbeitszeit – und Gehalt.

Kultusminister Flath sieht kaum Verhandlungsspielraum. Nach seinen Prognosen wird die Zahl der SchülerInnen in den nächsten zehn Jahren um ein Viertel zurückgehen, an den Mittelschulen, wo Haupt- und Realschüler zusammen lernen, wird sie sich gar halbieren.

Zeitgleich zum Stellenabbau hat das Kultusministerium auch eine Liste mit Schulen vorgelegt, die ab nächstem Schuljahr geschlossen werden sollen. Die Grünen haben sie „Liste der Grausamkeiten“ getauft. Auf ihr stehen über 100 von derzeit 450 Mittelschulen und etwa 25 Gymnasien, deren Pforten für immer schließen sollen.

Bisher tobte sich Flaths Gestaltungswillen in den Schulen vor allem am Vertretungsplan aus. Der offiziellen Statistik zufolge fällt jede 20. Stunde aus. „Bei uns ist der Gemeinschaftskundelehrer seit einer Weile krank“, erzählt die Schülerin Gertrude Eckert. Sie und ihre Mitschüler üben sich seitdem in Stillbeschäftigung: Sie werden von einem Lehrer beaufsichtigt, der gleichzeitig die Parallelklasse unterrichtet. Unter Ausfall wird das nicht gezählt, sondern unter Vertretung. Lehrer und Schüler befürchten in seltener Eintracht weitere Verschlechterungen, sollte die Arbeitszeit abgesenkt werden.

Die GEW und die sächsischen Oppositionsparteien PDS und Grüne beklagen, dass der Schülerrückgang nicht als Chance gesehen werde, den Unterricht zu verbessern. Die PDS will alle vorhandenen Stellen erhalten, die Grünen abhängig vom Schultyp 10 bis 30 Prozent mehr Lehrer einstellen lassen.

Minister Flath aber sieht sich bereits in der Qualitätsoffensive. „Die Teilzeitregelung begünstigt, dass mehr junge Lehrer eingestellt werden können“, sagt sein Sprecher. Die Kürzungen seien nicht so drastisch wie der Schülerrückgang. Es sei sichergestellt, dass sowohl Unterricht als auch außerunterrichtliche Aktivitäten zu 100 Prozent abgedeckt seien.

Laut sächsischem Schulgesetz sollen die Lehrer auch Arbeitsgemeinschaften und Elterngespräche mit ihrem vertraglich vereinbarten Zeitbudget bestreiten. Aber angesichts zunehmender sozialer Probleme fühlen sich viele schon heute überfordert. „In meiner Klasse habe ich das ganze Strafregister von Nötigung bis Schutzgelderpressung“, erzählt Gymnasiallehrer Uwe Wessolowski. Aber er habe kaum Zeit, sich um jeden seiner 27 Schüler entsprechend zu kümmern. Schüler zu fördern, das hieße vor allem, nachhelfen und Löcher stopfen. Für die Besten bliebe keine Zeit. „Ich bin doch nicht Lehrer geworden, um Flickschusterei zu betreiben“, entrüstet er sich. Nächsten Dienstag dürfen seine und alle anderen sächsischen Schüler wegen Ausfalls wieder zu Hause bleiben. Es wird gestreikt.