Baltischer Tiger wird Bettvorleger

KRISE Die Wirtschaft in Estland, Lettland und Litauen schrumpft rasant, Geld für Konjunkturprogramme fehlt

Viele, die noch Arbeit haben, müssen oft zwei, drei Monate auf ihren Lohn warten

VON REINHARD WOLFF

Jahrelang waren sie die Tigerstaaten der Europäischen Union. Keine Region der EU hatte annähernd ein so hohes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen wie die drei baltischen Staaten. Nun befinden sie sich in einer Abwärtsspirale, deren Ende nicht absehbar ist. Laut der am Donnerstag veröffentlichten aktuellen Eurostat-Statistik schrumpfte die Wirtschaftsleistung in der gesamten EU im zweiten Quartal 2009 um 4,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die drei baltischen Länder verloren viel mehr: Estlands Wirtschaft schrumpfte um 16,6 Prozent, Lettlands um 18,2 und Litauens um nicht weniger als 22,6 Prozent. Erst mit weitem Abstand folgen die osteuropäischen Problemstaaten Rumänien und Ungarn.

Vor allem der massive Einbruch der litauischen Volkswirtschaft überrascht. Zwar gründeten auch hier die jahrelangen Wachstumszahlen teilweise auf unsicheren Grundlagen: einem auf geliehenem ausländischem Kapital beruhenden Kaufboom und einer Immobilienspekulationsblase. Infolge der globalen Finanzkrise entwich beiden schlagartig die Luft. Doch immerhin war in das litauische Wirtschaftswunder im Vergleich zu Lettland und Estland auch die Realwirtschaft einbezogen. Weshalb Litauen im Baltikum beim Wachstumstempo auch jahrelang das Schlusslicht bildete.

Wenn es nun so massiv bergab geht, ist dies eine Kombination wegbrechender Exportmärkte, die vorwiegend im Osten – Russland, Ukraine und Weißrussland – liegen, und kräftig gesunkenem einheimischem Konsum. Die Menschen haben kein Geld mehr. Die Regierung hat die Löhne im öffentlichen Dienst um 20 Prozent gesenkt und die Steuern erhöht. In der Privatwirtschaft sank das Lohnniveau noch mehr. Die Arbeitslosenrate liegt bei 17 Prozent, in der Bevölkerungsgruppe der unter 25-Jährigen sogar bei einem Drittel.

Viele, die noch Arbeit haben, müssen oft zwei, drei Monate auf ihren Lohn warten. Und die Überweisungen Zehntausender litauischer ArbeitsmigrantInnen aus Irland, Großbritannien oder Norwegen in die Heimat sind kräftig gesunken, seit auch in diesen Ländern die Arbeitslosigkeit wächst.

Um diese Abwärtsspirale abzubremsen, wären Konjunktur-programme nach westeuropäischem Vorbild erforderlich. Doch in Wilnius, Riga und Tallinn sind die Kassen für solche Stimulanzpakete leer. Neue Staatsschulden sind kein Thema, weil man – Beispiel Lettland – entweder bereits unter der Kuratel des Internationalen Währungsfonds (IWF) steht. Oder die Zinsen auf dem internationalen Finanzmarkt fast unbezahlbar geworden sind, seit die internationalen Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit der Baltenstaaten herabgestuft haben. Man ist gezwungen, sich aus der Krise zu sparen. Was diese eher noch verlängern und vertiefen dürfte.

Litauen wird nach dem jetzigen Einbruch beim Bruttoinlandsprodukt bereits als nächster Kandidat für einen milliardenschweren Notkredit seitens IWF und EU gehandelt. Noch stemmt sich Wilnius gegen diesen Schritt. Und hofft ähnlich wie die Regierungen der Nachbarländer, dass die Talsohle bald erreicht ist und es dann wieder bergauf geht.