Die verlorene Würde der Ware

PLÜNDERUNGEN Am morgigen Samstag machen die letzten Hertie-Kaufhäuser dicht. Szenen aus dem Räumungsverkauf der Filiale Hamburg-Barmbek: Verpackungen werden aufgerissen, Waren liegen am Boden und die Kunden klauen mehr als sie kaufen

Hertie war eine der größten deutschen Warenhausketten, das erste Kaufhaus wurde von Oskar Tietz 1882 in Gera eröffnet.

■ Hertie steht für Hermann Tietz, den Geldgeber von Oskar Tietz.

■ In Hamburg entstand das erste „Warenhaus Hermann Tietz“ 1909. Mit der „Arisierung“ jüdischer Unternehmen bekam es den Namen Alsterhaus.

■ 1994 wird Hertie von Karstadt übernommen, 2005 an den Finanzinvestor Dawnay Day verkauft. Der meldete 2008 Insolvenz an.

VON MAXIMILIAN PROBST

Etwas ist anders, ganz anders und das fängt schon auf der Schwelle an: Das sanfte Rauschen der Klimaanlage, der unverwechselbar kühle Atem des Kaufhauses, der im Eingangsbereich der Dreh- und Angeltüren weht – er ist weg. Du schiebst dich in den Laden hinein und hast das Gefühl, in einen verschwitzen Trainingsanzug zu schlüpfen. Ein leichter Dunst flirrt im weiten Raum, von der flachen Decke tröpfelt nikotingelb ein wenig Licht.

Benommen nehme ich den Weg, wie ich ihn immer in den Kaufhäusern genommen habe, zu den Rolltreppen. Nach oben geht es nicht mehr, also nimmt mich die Treppe nach unten in Empfang, hinunter zu den Lebensmitteln. Dort stehen die Waren noch adrett in den Regalen. Keine Ermäßigung, außer auf Tiefkühlprodukte, aber die suche ich bereits vergeblich. Neben der Fleischtheke dreht sich – „Mittwoch ist Grillhähnchen-Tag“ – gerupftes Federvieh fetttropfend vergnüglich am Spieß, nichts ahnend vom letzten Mal. Für 89 Cent kaufe ich eine Packung Milch, haltbar bis zum 18. August, drei Tage länger als der Hertie in Hamburg-Barmbek, der sie verkauft.

Im Erdgeschoss läuft der Ausverkauf. Alles ist herabgesetzt wie nie, am stärksten das Benehmen der Kundschaft, die in Massen den Laden stürmt. Stämmige Frauen versenken ihre Hände in die Grabbeltische und zerpflücken die Wäsche wie Reich-Ranicki einen Roman von Grass. Die Männer drängen sich an den Elektrozubehörregalen, reißen Ladegeräte aus den Verpackungen und hinterlassen, was ihnen in der Küche nie so recht gelingt: einen raffinierten Salat. Aus Kabeln.

„70 Prozent, 80 Prozent, 90 Prozent ermäßigt. Ich kann Ihnen mit 100-prozentiger Sicherheit sagen: So tief purzeln die Preise nimmer mehr“, schallt es durch ein Mikrofon. Die Waren wohl auch nicht. Es lohnt sich, den Blick auf den Boden zu halten. Da liegen Klarsichthüllen, auf denen sich Schuhabdrücke abzeichnen; Tintenpatronen in blauer Lache, Jeans, von den Kleiderbügeln gerutscht, die Scherben einer zerdepperten Glühbirne, verschlissene Wattepads.

Mit dem Preis hat die Ware ihre Würde verloren. Sie wird mit Füßen getreten, paradoxerweise aber nicht weniger begehrt, ja selbst dann noch erworben, wo sie in Auflösung begriffen ist. An der Kasse schiebt eine Frau dem Verkäufer ein Spiel über den Tresen. „Aus Holland“ erklärt der Verkäufer, die Gebrauchsanleitung fehlt, ebenso die Hälfte des Zubehörs. „Das kann ich eigentlich nur noch wegschmeißen“, sagt er. Die Frau will es trotzdem haben.

Oder am Büchertisch: Ein Ehepaar beugt sich über eine West-Ungarn Autokarte, Ost-Ungarn hat sich irgendwie abgespalten. „Vielleicht machen wir ja mal einen Abstecher, wenn wir wieder nach Kroatien fahren“, überlegt der Mann und erwägt den Kauf. Ich überlege derweil, ob ich seine Begleitung auf den am Boden liegenden, um 70 Prozent ermäßigten „Scheidungsberater für Frauen“ aufmerksam machen soll.

Mit 70 Prozent Ermäßigung verspricht auch das Kinderbuch „Berts allerletzte Katastrophen“ in meinen Besitz überzugehen, und ein Band mit dem schwer verdaulichen Titel „Dumm gelaufen“ liegt hier gleich in mehrfacher Kopie herum.

Die Mitarbeiter: am Samstag ist Schluss, am Montag stehen sie auf der Straße. Keine Abfindung, keine Übergangsregelung. Freigestellt, wie es so schön heißt – man könnte auch sagen ohne Schirm im Regen. Und dann? „Mich betrifft diese Sache am wenigsten von allen hier“, prahlt der Mann mit dem Mikrofonbügel am Mund. Er ist selbstständiger Handelsvertreter – „die werden immer wichtiger“ – und hat schon jetzt genügend Agenturen, wie er sagt, die ihn buchen wollen. Und das glaubt gern, wer dem alten Fuchs zuhört: „Gerade jetzt im August sollten Sie an Weihnachten denken. Denn was lässt sich besser verschenken als Schmuck? Und Weihnachten, da werden dann auch die Karstadtläden geschlossen sein, die Hertie-Filialen in Hamburg sowieso, und was denken Sie, was dann los sein wird in der City? Na, dann viel Spaß, das wird richtig, richtig voll.“ Er muss wohl schon länger so herum flöten, jedenfalls sehe ich in der Kassenschlange eine Frau mit drei überdimensionierten goldenen Sternen stehen. Sechs schmucke Plastiknordmanntannen stehen bereits hinter einer Absperrung und weisen sich mit einem Schildchen um den Hals als „verkauft“ aus.

Also einen Ring. Ich stecke das praktische Stück – „aus Edelstahl, viel besser als die aus Silber, weil sie nicht ständig geputzt werden müssen“, sagt der Handelsvertreter – auf den Finger. Ein Ring, mit dem sich dem Kaufhaus die Treue halten lässt, über dessen Tod hinaus. Aber nein. Ein Ring ist auch etwas höchst Fatales, ein Sinnbild fürs Unentrinnbare. Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Das geschlossene System, in dem der Keim der Selbstzerstörung aufgeht. Hat das was mit Kapitalismus…?

Also kein Ring, aber irgendetwas muss man doch kaufen. Fast hätte mich Bryan Adams über den Tisch gezogen, 70 Prozent ermäßigt die CD und ein Albumtitel, der mein geistloses Gestammel geschmeidig in Worte fasst: „I thought I’d seen everything.“

Aber ich entscheide mich dann doch für eine Postkarte, die es noch massenweise gibt. Ein Weilchen überlege ich, ob ich mit der Postkarte in der Hand einfach aus dem Laden hinausmarschieren soll. Für 20, 30 Cent in die Kassenschlange stellen? Wo es keine elektronischen Sicherungen gibt und erst recht keine Ladendetektive? „Hier wird mehr geklaut als gekauft“ – das hatte mir vorhin auch einer der Mitarbeiter gesteckt.

Ich stelle mich aber an der Kasse an. Denn wie hatte Seneca mal seinem Schüler Lucilius geschrieben? „Meide die Masse.“ Aus jeder Berührung mit ihr sei er als schlechterer Mensch hervorgegangen. Wohl wahr, denke ich und schiebe die Ware über den Tisch. Trauerkarten gab es leider nicht mehr, ein Indiz für harte Zeiten. Aber eine in hübschen Farben, mit einem Kleeblatt drauf und einem goldenen Schlüssel. Und dem dazugehörigen Schriftzug: „Zur Geschäftseröffnung viel Glück und Erfolg.“