PHILIPP MAUSSHARDT über KLATSCH
: Mein Leben aus zweiter Hand

Journalisten haben doch einen entsetzlichen Beruf! Dachte ich – bis ich als Lehrer vor meinen Waldorfschülern stand

In einer Umfrage unter Abiturienten von diesem Frühjahr, was sie einmal werden möchten, rangiert der Beruf des Journalisten noch immer auf einem vorderen Rang. Mir kommt das komisch vor. Wie kann man es begehrenswert finden, anderen Leuten hinterherzulaufen und darüber zu schreiben, was sie machen? Anstatt selbst etwas Sinnvolles zu tun. Leben aus zweiter Hand nennt man das – ein entsetzlicher Gedanke, wenn man ihn lange genug denkt.

Mich beutelte die Trübsal über mein jämmerliches Dasein vor einigen Jahren so stark, dass ich beschloss, den Beruf zu wechseln. Lehrer an einer Waldorfschule zu werden, erschien mir befriedigender, als für das Anwachsen von Altpapierstapeln zu sorgen. Und so meldete ich mich auf dem Lehrerseminar in Stuttgart an. Aber wirklich einzutauchen in die Geisteswelt von Rudolf Steiner gelang mir nicht. Vielmehr saß ich nach einigen Monaten nur noch kichernd in der letzten Reihe und reimte Vierzeiler auf das Lehrpersonal, zum Beispiel unseren Musiklehrer Ronner. Steiner fragte: „Sag mal Ronner,/ Wie viel wiegt ein Vierzigtonner?“/ Darauf Ronner bös zu Steiner: / „Du bist mir ein ganz Gemeiner.“ Kurze Zeit später stand ich vor einer sechsten Klasse der Waldorfschule in Nürnberg und sollte Geschichte unterrichten. Doch an meinem ersten Tag in der Schule fiel der Unterricht wegen einer Theateraufführung des Lehrerkollegiums gleich aus. Ich war beauftragt, während der Vorstellung im Saal für Ruhe in meiner neuen Klasse sorgen und sagte „pssst“, wenn jemand redete, klopfte ihnen sacht auf den Arm, wenn sie mit Füßen gegen die vor ihnen Sitzenden traten, oder ich schaute böse, wenn sie bei abgedunkeltem Licht plötzlich unter die Stühle krochen. Als ich den neben mir sitzenden 12-jährigen Schüler einmal zum Schweigen ermahnte, riet er mir, ich solle mich „gefälligst auf die Vorstellung konzentrieren und nicht ihm zuhören“.

Die Klassenlehrerin hatte mich am Morgen den Schülern vorgestellt und jemand rief „Mäusle“. Einige kicherten. Johannes fiel polternd vom Stuhl. Ich erzählte die Legende von Zarathustra und beschrieb das Hochland von Persien. Manche hörten zu, manche schauten zum Fenster hinaus, Magdalena heulte, weil Charlotte sie eine „blöde Kuh“ geheißen hatte.

Am andern Tag, es war Winter, ging ich mit der Klasse Schlitten fahren. Als Erste fuhr Juliane den vereisten Berg hinunter. Ich sehe noch, wie sie immer schneller wird und offensichtlich das Lenken nicht beherrscht. Ihre Fahrt endet an einem Baum. Sie hält sich das Knie und heult. Alle Jungs lachen. Sie freuen sich immer über Missgeschicke der Mädchen. Im Klassenzimmer sind sogar die Kleiderhaken streng nach Jungs und Mädchen getrennt. Ist ein Junge krank und fehlt in der Schule, spricht kein Mädchen das Genesungsgedicht mit und umgekehrt. „Yves ist ein Schwein“, schreit Laura, „er hat Sybille Schnee ins Gesicht geschlagen.“ Tatsächlich steht Sybille da und heult. Ich will sie trösten, aber es gelingt mir nicht, denn ich bin männlich.

In der Zwischenzeit haben einige Mädchen Yves umstellt und schlagen ihn. Ich rufe „aufhören!“, da haben sich die Jungs aber schon mit Schneebällen bewaffnet und zielen auf die Mädchen. Ein einsamer Schlitten saust den Berg hinunter. „Das war Dominic“, schreit Anna-Belèn, „er hat ihn mir aus der Hand gerissen.“ Beim Nachhausegehen binden sie alle ihre Schlitten hintereinander und ich ziehe sie mit letzter Kraft zurück zur Schule. „Schneller, los schneller!“, rufen sie.

Eigentlich bin ich diesen Schülern bis heute dankbar, dass sie mich vor ihresgleichen warnten. Ich brach die Ausbildung ab und schrieb wieder über das Leben anderer Leute. In diesen Tagen müsste die Klasse das Abitur machen. Wahrscheinlich wollen einige von ihnen Journalisten werden.

Fragen zu Steiner? kolumne@taz.de Dienstag: Bernhard Pötter über KINDER