Zu Fuß unterm Bosporus

Eine Keksdose 60 Meter unterm Meer: Spaziergang im tiefsten Eisenbahntunnel, der jemals gebaut worden ist

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der erste Eindruck ist: kalt, feucht und dämmerig. Am Ende der in 54 bis 60 Meter Tiefe liegenden Röhre, hinter den Sicherheitsschleusen, warten schlammige Pfützen, Betonwände, aus denen Wasser schwitzt, und aus weiter Ferne ein konstantes donnerndes Geräusch. Willkommen unterm Bosporus, willkommen beim Marmaray-Projekt.

Flackernde Neonlampen beleuchten einen leeren, rechteckigen Kasten, der der Länge nach unterteilt ist. Weit und breit ist niemand zu sehen. Über uns erst ein Betondeckel, darüber eine Aufschüttung schwerer Steine, und dann kommt das Wasser. Ozeanriesen schieben sich über uns hinweg, mehr als 130 Schiffe passieren das Nadelöhr zwischen dem Schwarzem Meer und der Ägäis täglich, rund 50.000 im Jahr. Noch liegt der Tunnel wie eine gigantische geschlossene Keksdose unter dem Meeresgrund. Die Dose ist noch unverbunden mit den Anschlüssen, die erst vom Ufer aus gebohrt werden müssen. Es dürfen sich nie mehr als 40 Arbeiter gleichzeitig im Tunnel aufhalten, der Überlebensraum, aus dem man im Falle eines Wassereinbruchs gerettet werden kann, fasst maximal 40 Personen.

Als man uns vor dem Einstieg eine Schwimmweste und einen Sicherheitshelm verpasste, kam uns das in der flirrenden Sommerhitze am Ufer des Bosporus ziemlich albern vor. Doch das änderte sich schnell. Der Zugang zum Tunnel erfolgt über eine Plattform, die wie eine Ölbohrinsel ungefähr 200 Meter vom asiatischen Ufer entfernt aus dem Wasser herausragt. Zur Plattform führt ein Steg, der zunächst noch sehr solide auch für Baufahrzeuge ausgelegt ist, sich zum Ende hin jedoch in einen schwankenden Kranausleger verwandelt. Der Abstieg in die Stahlröhre hat ungefähr zwei Meter Durchmesser. Auf einer stählernen Wendeltreppe geht es immer weiter hinunter. Schritt für Schritt wird es merklich kühler. Als wir nach 55 Metern unten angekommen waren, wünschten wir uns neben dem Helm und der Schwimmweste noch eine Jacke und Gummistiefel, doch die waren nicht im Angebot.

Tiefste Röhre

Sekeriya Kayanci von dem amerikanisch-japanisch-türkischen Baukonsortium ist sichtlich stolz auf seinen Tunnel. Während wir unter Wasser in Richtung Europa marschieren, haut er die technischen Details des Projekts nur so heraus: Länge des Tunnels unter Wasser: genau 1.387 Meter. Tiefste Stelle: 60,46 Meter unter dem Wasserspiegel. Damit ist er der am tiefsten auf dem Grund liegende Tunnel, der jemals als Verkehrsröhre unter dem Meer gebaut wurde. Die Röhre verbindet nicht nur die beiden Stadthälften von Istanbul, sondern auch zwei Kontinente. Wenn der Tunnel in vermutlich vier Jahren für den Verkehr freigegeben wird, werden die Züge auch südlich des Schwarzen Meeres ungehindert von Paris, London oder Berlin bis nach Zentralasien rollen können.

Für die Projektplanung war der Zugfernverkehr aber nur ein untergeordneter Gesichtspunkt. Hauptsächlich soll der Tunnel die Megacity Istanbul mit ihren rund 15 Millionen Einwohnern vor dem völligen Verkehrsinfarkt retten. Während die Autos heute fast zu jeder Tageszeit in stundenlangen Staus auf den zwei Brücken über dem Bosporus stehen, werden künftig pro Stunde 75.000 Istanbuler mit S-und U-Bahn in wenigen Minuten die Meerenge unterqueren können. Mehr als drei Milliarden Dollar werden dafür investiert, finanziert von der japanischen Staatsbank und der europäischen Investitionsbank.

Auch technisch war der Bau eine Ausnahmeleistung. Der Tunnel besteht aus elf Teilstücken, die nach und nach versenkt wurden. Japanische Ingenieure steuerten die Elemente von schwimmenden Plattformen aus per Satelliten millimetergenau an das zuvor verlegte Teilstück. Angesichts der starken Strömung im Bosporus eine Meisterleistung. Denn der Bosporus ist tückisch. Während das Wasser an der Oberfläche mit bis zu sechs Knoten vom Schwarzen Meer ins Marmarameer herabströmt, bewegt es sich am Grund genau gegenläufig zum Schwarzen Meer hin.

Das Know-how des Tunnelbaus kommt aus Fernost. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es mehr Erfahrungen mit solch schwierigen Unterwasserprojekten, noch dazu in seismologisch kritischen Gebiete, als in Japan. Denn wie die japanischen Inseln ist auch das Gebiet rund um den Bosporus erdbebengefährdet. Tatsächlich rechnen die meisten Geologen damit, dass Istanbul innerhalb der kommenden 50 Jahre von einem Erdbeben bis zur Stärke 7,5 auf der Richterskala heimgesucht werden wird. Trotzdem geben die japanischen Ingenieure eine Garantie für die nächsten 100 Jahre. Der Tunnel wurde im Meeresgrund aufwendig verankert und kann an den beiden Verbundstücken zum Land hin Erschütterungen flexibel abfangen.

So stabil wirkt der Tunnel auf den ersten Blick nicht. Die unter Wasser ausbetonierten Anschlussstellen zwischen zwei Tunnelteilstücken sind deutlich sichtbar, an einigen Stellen läuft das Wasser an den Betonwänden herunter, an anderen Stellen tropft es vernehmlich von oben. Doch das, so Sekeriya Kayanci, sei nur baustellenbedingt und habe für den späteren Zustand des Tunnels keine Bedeutung.

Langsam nähern wir uns der Geräuschquelle, und endlich sieht man auch ein paar Leute an der weiteren Vollendung des Projekts arbeiten. Es werden Stahlstreben gesetzt, die künftig einen Gang tragen sollen, der in der Tunnelmitte eine Art Notausgang darstellen wird. Über diesen Gang sollen die Passagiere im Falle eines Unfalls die rettenden Ufer erreichen können. Aus dem Tunnel selbst wird es keinen Notausgang geben. Allerdings können die Passagiere durch Schotten, die im Notfall geöffnet werden, von einer Tunnelhälfte in die andere wechseln und sich so bei einem Brand erst einmal in Sicherheit bringen.

Eigentlich sollte schon Ende dieses Jahres die feierliche Einweihung sein, doch jetzt rechnet man für frühestens Ende 2013 damit. Der Grund sind die Überraschungen, die die Istanbuler Erde nach 8.000 Jahren Siedlungsgeschichte zu bieten hat. Die S-Bahn wird nach der Bosporus-Unterquerung auf asiatischer Seite noch eine und auf der europäischen Seite noch zwei Stationen unterirdisch weitergeführt, weil Züge nur ein bestimmtes Gefälle bewältigen können und deshalb einen langen Einstieg in den Tunnel brauchen. Die S-Bahnen und auch die Fernzüge werden deshalb unter der Hagia Sophia und unter der Blauen Moschee hindurchgeführt, wo sie dann ans Marmarameer gelangen sollen. An dieser Stelle wird ein großer Umsteigebahnhof entstehen, weil dort die U-Bahn, die ins moderne Zentrum der Stadt führt, ebenfalls enden soll. Just hier, in Yenikapi, wo sich eine Baugrube von der Größe des Ground Zero in Manhatten auftut, legten die Bauarbeiter einen der wichtigsten antiken Häfen des frühen Byzanz frei. Während die Archäologen jubelten, bekamen die Projektmanager Depressionen.

„Es war natürlich bei der Projektplanung Zeit und Geld für archäologische Funde berücksichtigt worden, doch das Ausmaß und der Reichtum der Funde hat uns alle überrascht“, sagt Günter Haass von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit“ (GTZ), in ein Beraterteam für das türkische Transportministerium entsandt. „Es ist toll für Istanbul, dass wir zufällig auf den lange verschütteten Theodosianischen Hafen gestoßen sind, aber für das Projekt bedeutet das eine enorme Verzögerung.“ Zwar sei die Finanzierung dadurch nicht infrage gestellt – die Bank of Japan und die europäische Investitionsbank stellen die Mittel trotz der Zeitverzögerung zur Verfügung –, aber die Kredite werden teurer, und der Zeitpunkt, zu dem die Einnahmen fließen werden, verschiebt sich nun erheblich.

Die Stadt versucht das Beste aus den Funden zu machen. Seit 2004 wird der Baugrund in Yenikapi auf der europäischen und in Üsküdar auf der asiatischen Seite der Stadt von Archäologen akribisch durchgesiebt. Vor zwei Jahren konnte man die Ergebnisse bereits in einer Sonderausstellung im Archäologischen Museum bewundern. Schiffsrümpfe aus dem 9. und 11. Jahrhundert, im Lehm geborgen und sensationell gut erhalten, wurden nach allen Regeln der Kunst ausgegraben und konserviert. Unzählige andere Artefakte waren in der Ausstellung „Unter dem Tageslicht: 8.000 Jahre Istanbul“ zu sehen und sollen in ein paar Jahren in einem eigenen neuen Museum in unmittelbarer Umgebung des zukünftigen Umsteigebahnhofs Yenikapi dem Publikum dauerhaft präsentiert werden. Möglich, dass das Museum noch weit größer wird als jetzt geplant, denn „jeder Spatenstich in diesem historischen Grund birgt neue Überraschungen“, resümiert Günter Haass seine bisherigen Erfahrungen.

Rettungsrüssel

Im Tunnel, der von Asien nach Europa ein deutliches Gefälle aufweist, wird es, je weiter wir ans Ende kommen, umso feuchter, und so bläst Sekeriya Kayanci zum Rückzug, noch bevor das stählerne Schlussschott erreicht ist. Vor unserem Wiederaufstieg werden wir noch in den Überlebensraum geführt, eine Stahlkammer, die über einen Rüssel an ein Rettungsschiff angedockt werden kann. Man darf keine Klaustrophobie haben, sollte man einmal in 50 Meter Tiefe hier eingeschlossen sein.

Ob die Istanbuler trotz Erdbebengefahr und der wenig verlockenden Aussicht, bei einem Unfall nur schwer aus dem Tunnel hinauszukönnen, die S-Bahn unter dem Bosporus überhaupt nutzen werden, ist eine der Fragen, die jetzt nur schwer beantwortet werden können. Doch Sekeriya Kayanci ist da ganz optimistisch. Die Istanbuler, meint er, blieben ja auch in ihren Häusern wohnen, obwohl es in vielen davon im Falle eines Erdbebens viel gefährlicher wäre als in dem Tunnel. Na ja, Kayanci kommt aus Ankara und wird auch wieder nach Ankara zurückkehren, wenn der Bau beendet ist.