Blick zurück in Trauer

Sprich, Kriegserinnerung, sprich: Die Befürchtungen, die deutschen Kriegskinder wollten sich 60 Jahre danach zu den wahren Kriegsopfern stilisieren, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet

VON UTE SCHEUB

Eine Flut von Erinnerungen ergießt sich übers Land. 60 Jahre nach den historischen Ereignissen konnte man das Vorrücken der Alliierten gewissermaßen live miterleben: die Befreiung der KZs, die Schlacht um Berlin, die Kapitulation. Und die Älteren beginnen zu reden, vielleicht zum ersten Mal ohne Scheu, weil ja alle reden. Sie berichten von Bombenangriffen, von Flucht und Vertreibung. Über dieses oftmals stammelnde Erzählen konstituiert sich eine neue Generation: die der Kriegskinder.

Dürfen die das? Darf jenes Volk, das Millionen von Tätern und Täterhelfern in seinen Reihen hatte, seine Opfer bejammern? Konstituiert es sich darüber am Ende sogar selbst als Opfer? Vollzieht die Vergangenheitspolitik eine Schleife, und wiederholt sich die Legendenbildung der Fünfzigerjahre, es gäbe nur einen einzigen Täter namens Hitler, dessen Verführungskunst die Deutschen kollektiv zum Opfer gefallen seien? Nicht wenige hegen diesen Verdacht. Der Bochumer Historiker Norbert Frei zum Beispiel. Ihm sind weder die aktuellen literarischen Leidensberichte dieser Generation geheuer noch Sachbücher wie Jörg Friedrichs „Brand“ über den Bombenkrieg der Alliierten gegen deutsche Städte. Auf der Tagung „Politik der Schuld“, im Februar ausgerichtet vom Deutschen Historischen Institut und dem Hamburger Institut für Sozialforschung, vermutete Frei ein „neues Opferbewusstsein“.

Auch Dieter Graumann von der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main zeigte sich von denselben Ängsten geplagt, als er im April den Organisatoren des Kongresses „Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa“ vorwarf, das Leiden der Holocaust-Kinder „abgedrängt“ zu haben. „Was wir derzeit erleben, ist die Umdeutung der deutschen Geschichte“, behauptete er.

Ist das wirklich so? Zweifel scheinen angebracht. Weder der „Kriegskinderkongress“ noch die bisherige mediale Debatte haben etwas gleichgesetzt, was nicht gleichgesetzt gehört. Diese Thesen stimmen schon deshalb nicht, weil die Motivation der Kriegskinder eine andere ist als die der inzwischen fast ausgestorbenen Generation der Täter. Letztere unternahm alles, um Schuld zu beschweigen und Verantwortung von sich zu weisen. Was dazu führte, dass die im Krieg Geborenen, oftmals die Kinder der Täter, sich „schuldlos schuldig“ fühlten und angesichts der jüdischen Leiden nicht das Recht zu haben glaubten, über ihr eigenes Leiden zu sprechen. Es habe hier kein Tabu gegeben, wie vielfach behauptet, nur eine „innere Zensur“, darauf wies mit Recht der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende Micha Brumlik auf dem Frankfurter Kriegskinderkongress hin. Auch für ihn sei es nicht einfach anzuerkennen, dass Menschen, „die Nutznießer oder Verursacher des Schreckens waren“, ebenfalls gelitten hätten oder dass bestimmte Aspekte bei der Kriegsführung der Alliierten „menschenrechtlich inakzeptabel“ waren. Hier komme es darauf an, „Ambivalenztoleranz“ zu zeigen.

Wie groß das Ausmaß der „Selbstzensur“ war und wie nötig das Reden ist, das zeigt sich derzeit vielerorts. Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale, die sich in Bosnien oder Afghanistan um vergewaltigte Frauen kümmert, erhält derzeit viel Post von alten deutschen Frauen, die bei Kriegsende vergewaltigt worden waren. Offenbar brechen die Erinnerungen nun erneut auf – keine Seltenheit bei älteren Traumatisierten. Auch der Frankfurter Kriegskinderkongress war mit über 600 Teilnehmenden völlig überlaufen. Im Schutz kleiner Untergruppen wagten es Menschen, manche zum ersten Mal in ihrem Leben, von ihren Todesängsten während Krieg und Vertreibung zu sprechen, von psychosomatischen Erkrankungen und anderen lebenslangen Folgen, auch von den vielfältigen Formen von Härte und Gewalt, die Naziväter an ihre eigenen Frauen und Kinder weitergegeben hatten. Dennoch wurde das eigene Trauma relativiert: „Wenn man eine solche Veranstaltung in Israel, Polen oder Russland abhalten würde“, hörte man immer wieder, „dann wären die erzählten Geschichten noch viel schrecklicher.“

Dürfen wir uns also an die deutschen Leiden erinnern? Wir dürfen. Ja, wir müssen sogar, fordert die Zunft der Psychotherapie, wenn wir unsere frei flottierenden Ängste, die bibelhaft „bis ins dritte und vierte Glied“ weiterwirken und Deutschland zu einer immobilen „Hochsicherheitsgesellschaft“ gemacht haben, loswerden wollen.

Und es ist ja nicht vorgeschrieben, dass Erinnern ausschließlich opfertriefend schmerzensreich zu erfolgen habe. Die Soziologin Sibylle Hübner-Funk erinnerte in Frankfurt an die „salutogenen Kräfte“, die Hilfs- und Rettungserfahrungen, die sie selbst und andere Kriegskinder auch gemacht hätten. Anderen wie der österreichischen Jugendbuchautorin Käthe Recheis gelingt es, ihre Erinnerung mit selbstironischer Distanz zu präsentieren. Gegen Ende des Krieges, man glaubt es kaum, wurden sogar „Hundeeinrückungsbefehle“ erlassen. Dona aber, der Hund ihrer Familie, „war kein Held“; wenn es knallte, zog er den Schwanz ein und drückte sich angstvoll an die Menschen. Bei der „Hundemusterung“ fiel er gnadenlos durch, er wurde für „wehrunwürdig“ und „zuchtunwürdig“ erklärt. Ja, und die anderen Dorfhunde? Haben sie die verhängte „Zuchtunwürdigkeit“ akzeptiert? Das haben die nicht kapiert, lacht Käthe Recheis.

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