TANIA MARTINI LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Fédida, Performance und Maschine

Diesen Winter gab es mehr Depressive als Verschnupfte. Mir kam es wenigstens so vor. Zwischen 2000 und 2011 ist die Zahl der Selbsthilfegruppen zur Depression in Berlin von 10 auf 114 gestiegen. Das hat Konstantin Ingenkamp herausgefunden. In seinem Buch „Depression und Gesellschaft“ (transcript 2012) sagt er, faktisch gebe es gar nicht mehr Depressive. Die Gesellschaft biete die sogenannte therapeutische Erzählung als Identifikationssystem für etwas an, das eigentlich zur „Conditio humana“ gehöre. Depression sei eine anthropologische Konstante, es bestehe lediglich ein Melancholieverbot, da die Gesellschaft sich am Ende der Geschichte wähne. Er schlägt vor, die schöpferische Melancholie wiederzuentdecken und dem Wahn Gesundheitsgesellschaft zu entkommen.

Das klingt einerseits plausibel, andererseits habe ich mich schon immer gefragt, was die Rede von anthropologischen Konstanten mit analytischem Denken zu tun hat. Hat nicht jede historische Formation ihre besonderen Erfahrungsformen? Was etwa passiert mit uns, wenn Arbeit sich dahin gehend verändert, dass Subjektivität selbst zur Wertquelle wird? Wenn es zunehmend darum geht, Gefühle, kooperative und kreative Fähigkeiten zu Markte zu tragen? Bringt das nicht zumindest affektiv Erschöpfte hervor?

Der Analytiker Pierre Fédida machte laut Ingenkamp aus der Depression eine antikapitalistische Strategie – als Erlösung vom gegenwärtigen Performance-Zwang. Der Performance-Zwang ist ja die pervertierte Fortführung der Lust zur Selbstverwirklichung. Bei Tocotronic heißt es in einem Song „Sag alles ab, geh einfach weg, halt die Maschine an“. Nun kann man nicht mehr einfach nur die Maschine anhalten, so wie die Maschinenstürmer während der Industriellen Revolution. Aber alles absagen, einfach weggehen, ohne die Idee von Selbstverwirklichung, darüber ließe sich nachdenken.

Die Autorin ist Redakteurin für das politische Buch Foto: privat