Hingetuschte Betonmonster

ZEICHNUNGEN Utopist, Lehrer von Jean Nouvel, Inspirationsquelle für Rem Koolhaas und Zaha Hadid: In Frankreich wird der 1923 geborene Architekt Claude Parent wiederentdeckt. Warum, zeigt die Galerie Esther Schipper

Parents Erweckungserlebnis war der Besuch der Atlantikwallbunker mit seinem Kollegen Paul Virilio

VON RONALD BERG

Handelt es sich tatsächlich um Architekturen? In feinen Bleistiftstrichen und Schraffuren sind gitterartige oder kubische Gebilde zu Papier gebracht. Der räumliche Eindruck ist stark: Teils liegt es an den weitwinkligen Vogelperspektiven, teils an winzigen Staffagefigürchen, die die verzahnten Räume in der Luft oder unter der Erde in gewaltigen Dimensionen erscheinen lassen. Manches erinnert an die utopischen Architekturentwürfe der Megastrukturen und des Metabolismus der sechziger Jahre.

Claude Parent, der Schöpfer dieser fantastischen Raumansichten, gehört in diese Kategorie der Utopisten. Die Galerie von Esther Schipper zeigt den in Deutschland wenig bekannten Architekten mit Zeichnungen vor allem aus dem Jahr 2011. Erstaunlicherweise sehen diese Blätter aus, als kämen sie von weit her, aus einer Zeit, die noch Sinn für Utopien hatte. Die Wiederentdeckung des Architekten mit der große Retrospektive in der Pariser Cité de l’architecture & du patrimoine vor zwei Jahren mag Parent darin bestärkt haben, an alten Ideen festzuhalten.

Parent, Jahrgang 1923, war selbst in seiner Heimat Frankreich fast vergessen. Seit den siebziger Jahren hatte er zwar gelegentlich noch bauen können, aber er stach aus dem postmodernen Anything goes nicht mehr sonderlich heraus. Dabei sehen Parents Entwürfe aus den sechziger Jahren wie eine Vorwegnahme all der architektonischen Tollheiten von Postmoderne und Dekonstruktion aus. Parents erstes Mittel, um die Architektur aus Langeweile, Uniformität und Kommerzialität zu befreien – und zugleich sein Markenzeichen – wurde die Schräge, „La fonction oblique“.

Auf der schiefen Bahn

Parents Erweckungserlebnis war der Besuch der Atlantikwallbunker mit seinem Kollegen Paul Virilio Anfang der sechziger Jahre. Die Betonungetüme lagen – vom Meer unterspült – schräg im Dünensand. In ihrem Inneren konnte man nicht mehr genau unterscheiden, ob man sich auf Boden oder Wand bewegte. Parent und Virilio bauten dann 1965 im zentralfranzösischen Nervers eine Kirche, die auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Wiedergänger jener Bunker aussieht – und natürlich für einen Skandal sorgte.

In den aktuellen Zeichnungen erinnern vor allem die als „Einschnitte“ bezeichneten Motive an die Bunkerfaszination. Bekanntlich haben Bunker keine Fenster, sondern bestenfalls Schießscharten. Bunkerräume sind also auch unterirdisch denkbar. Parent, der in den fünfziger Jahren kurz bei Le Corbusier arbeitete und anfänglich noch klassisch-moderne Bungalows baute, geriet in den Sechzigern und Siebzigern gänzlich auf die schiefe Bahn und entwarf schräge Betonmonster größten Ausmaßes.

Vieles wurde nicht gebaut, doch bezeichnenderweise kam Parent ausgerechnet in der architektonischen Verpackung der Atomkraftwerke von Cattenom und Chooz zum Zuge. Seine „fonction oblique“, ursprünglich als Wiederbelebung architektonischer Erlebnisqualitäten gedacht, gewinnt unter diesem Aspekt fast eine makabre Note. In Parents Zeichnungen scheinen tatsächlich ganze Städte unter die Erde gewandert, wie im Science-Fiction-Szenario einer großen (nuklearen?) Katastrophe.

Dass man auch in luftigen Höhen mit schrägen Raumagglomerationen fast automatisch zu einer im Prinzip unendlich in jeder Richtung vernetzten Struktur gelangt, zeigen Zeichnungen, in denen schwebende Gitter die Hauptrolle spielen. Diese Gitter beziehen sich auf Parents urbane Ideen, die nicht nur eine neue räumliche Organisation, sondern auch eine andere soziale Struktur der Stadt ergeben würden. Solche Gedanken entwickelte Parent in den sechziger Jahren.

Schräge Wohnhöhlen

Das Leben in schrägen Wohnhöhlen wollte er damals sogar in Paris zusammen mit Virilio als Versuchskaninchen öffentlich vorführen. Das Modell zweier miteinander verschränkter Wohnschächte existierte bereits. In der aktuellen Schau nehmen Tuschzeichnungen von „Gelenkarchitekturen“ diese Art der Verbindung von Raummodulen wieder auf. Die Unruhen des Jahres 1968 ließen aber das Wohnexperiment seinerzeit gar nicht erst zur Ausführung kommen.

Wenn man sich heute für Parent wieder interessiert, dann wohl dank neuer Entwurfsmöglichkeiten. Mittels Computer lässt sich vieles aus Parents Papierentwürfen heute vergleichsweise einfach berechnen – und bauen. Schüler Parents wie Jean Nouvel und Anhänger im Geiste führen das praktisch vor, ob schräge Raumkontinua wie bei Rem Koolhaas oder schiefe Bunkerhüllen wie bei Zaha Hadid. Parent scheint also anregend zu wirken. Dem Wie und Warum dafür kann man in dieser ersten Einzelausstellung Parents in Deutschland nachgehen.

■ Galerie Esther Schipper, Schöneberger Ufer 65, Di. bis Sa. 11–18 Uhr, bis 10. März