Josef-Otto Freudenreich
: Bittere Tage

Wie wohl tut es, in diesen bitteren Tagen eine besonnene Stimme zu hören. Sie kommt von einem Gottesmann, dem Prälaten im Ruhestand, Martin Klumpp. Das muss ihr Gewicht nicht schmälern, auch wenn die Kirche im profanen Poker politökonomischer Macht kein Player ist. Klumpp mahnt etwas an, was in Stuttgart offensichtlich verloren gegangen ist: der partnerschaftliche Umgang miteinander. Und er sagt, dass dafür eine Ruhepause nötig wäre, ein Händeweg von den Bäumen bis zum Herbst.

Stattdessen wird verbal aufgerüstet. Doch wo soll es hinführen, wenn die Polizei von „Hassbürgern“ spricht und Parkschützer dem Polizeipräsidenten „eins in die Fresse“ hauen wollen? Man kann Krieg auch mit Worten führen und darf sich dann nicht wundern, wenn aus den Worten Taten werden.

Die Kontext:Wochenzeitung hat Stuttgart 21 stets kritisch begleitet, ohne die Wundergläubigkeit des Ministerpräsidenten, mit dem journalistischen Blick auf die Fakten, die immer deutlicher machen, dass das „bestgeplante Bauprojekt Europas“ eine schwere Hypothek auf Jahrzehnte werden wird.

Wenn wir jetzt eine Schwerpunktausgabe zu dem Thema vorlegen, dann nicht mit der Absicht, noch einmal aufzublättern, wo die juristischen, technischen und ökonomischen Bruchstellen liegen. Das ist bekannt. Es geht uns um den Kontext des Protests, der aktuell zu eskalieren droht. Dazu zählt das lange Interview mit Ministerpräsident Kretschmann, in dessen Person sich der Konflikt geradezu paradigmatisch widerspiegelt. Er hat ihn für sich eingeordnet und damit aushaltbar gemacht.

Dazu gehört der Beitrag der Soziologin Ohme-Reinicke, die Kretschmanns Partei und ihr Verhältnis zur Protestbewegung analysiert, ebenso wie Meinrad Hecks Text zur neuen Strategie der Polizei, die nichts Gutes ahnen lässt. Das lässt sich allein an dem Einsatzbefehl erkennen, der „Kontext“ exklusiv vorliegt. (Und trotzdem oder gerade deshalb ist die Kontext:Wochenzeitung wieder hinter den Zäunen der Staatsgewalt dabei.)

Um zu verstehen, welche Motive Menschen vor die Zäune treibt, haben wir eine Parkschützerin gebeten, ihre Gedanken aufzuschreiben. Es sind Gedanken voller Zorn und Ohnmacht. Auch sie gehören zum Zusammenhang einer Bürgerbewegung, deren Horizont nicht im Schlossgarten endet. In jenem Park, in dem Boris Palmer von seinem Vater an die Hand genommen wurde und wo er gelernt hat, wie Susanne Stiefel beschreibt, was der Baum als Symbol des Lebens bedeutet.