„Die Herrschaft des Rechts ist in den USA bedroht“, sagt Anthony Lewis

Heute vor einem Jahr wurden Folterbilder aus Abu Ghraib veröffentlicht. In den USA wurden sie rasch vergessen

taz: Herr Lewis, heute vor einem Jahr wurden die ersten Fotos von Folterungen in dem von den US-Streitkräften betriebenen irakischen Gefängnis Abu Ghraib veröffentlicht. Hat sich die amerikanische Gesellschaft nach dem ersten Entsetzen damit abgefunden?

Anthony Lewis: Das Entsetzen, das es nach der Veröffentlichung der Bilder gab, hat sich gelegt. Einfach deshalb, weil es keine neuen Bilder mehr gab. Bilder von gefolterten Menschen beeindrucken mehr als jede Verlautbarung über die wenigen Verurteilungen amerikanischer Soldaten. Dabei benutzen sie auch nie das Wort „Folter“, sie sprechen von „Fehlbehandlung von Gefangenen“. Amerikaner werden also nicht mehr damit in Kontakt gebracht. Sie wollen es auch nicht mehr hören.

Haben die Gerichte in den USA denn adäquat auf das Geschehen reagiert?

Sie beginnen sich allmählich mit den Folterfällen zu befassen. Und sie haben schon auf andere Aspekte des „Kriegs gegen den Terror“ reagiert. Ein Richter in Washington hat die US-Army aufgefordert, mit den inadäquaten Anhörungen auf Guantánamo aufzuhören. Das hat zwar nicht unmittelbar mit Folter zu tun. Aber wenn Gefangene die Gelegenheit haben, vor einem richtigen Tribunal auszusagen, dann können sie auch über Folter berichten.

Nach Guantánamo und Abu Ghraib glauben Europäer zuweilen, Gefangene so zu behandeln, sei typisch amerikanisch.

Ich hoffe, es ist nicht typisch. Ich glaube, es ist ein Ergebnis der extremen Situation. Amerikaner empfinden ein Gefühl von Verwundbarkeit wie sie dies nie hatten. Es ist schwierig das einem Europäer zu erklären. Die Europäer jeden Alters haben irgendwann in ihrem Leben die Folgen von Angriffen und Gräueltaten gespürt. Die USA waren zwar am Zweiten Weltkrieg beteiligt, dabei sind viele Soldaten gestorben, aber sie haben nie das Gefühl gehabt, dass ihr Heimatland bedroht werden könnte. Die Angriffe auf das World Trade Center, der Angriff von Leuten, von denen zuvor kaum jemand etwas gehört hatte auf dieses Symbol, hat uns tatsächlich verängstigt.

Deshalb versteht sich Bush als Kriegspräsident. Halten die USA das auf Dauer aus?

Es ist nicht das erste Mal, dass die Furcht vor Terror die amerikanische Verfassung auf die Probe gestellt hat. Es gab Repressionen während des amerikanischen Bürgerkrieges. Im ersten Weltkrieg ließ Präsident Woodrow Wilsons Leute ins Gefängnis sperren, weil sie seine Politik kritisierten. Unter Präsident Roosevelt wurden im Zweiten Weltkrieg Amerikaner japanischer Herkunft interniert. Aber es gibt einen beunruhigenden Unterschied zwischen diesen historischen Exzessen und den heutigen. Bald nach diesen Geschehnissen haben unsere Regierungen das Vorgehen bedauert.

Wann dürfen wir auf diesen Punkt hoffen?

Diesmal ist es schwierig, sich ein Ende des „Kriegs gegen den Terrorismus“ vorzustellen. Ussama Bin Laden wird nicht auf einem US-Kriegsschiff stehen und, wie die japanischen Führer 1945, die Kapitulation unterschreiben. Wenn wir der Regierung also erlauben, andere Notwendigkeiten über die Herrschaft des Gesetzes zu stellen, wird es kein Ende der Repression geben.

Bush wurde wiedergewählt und behauptet, nun die Bestätigung der Bevölkerung zu haben.

Nicht mit Blick auf die Folter. Denn die Folter wurde im Wahlkampf nie erwähnt. Dafür kann man John Kerry kritisieren, aber es zeigt vor allem, wie sensibel dieses Thema Terrorismus ist. Hätte Kerry die Folter zum Thema gemacht, hätten Bush und seine Anhänger gesagt: Seht her, er sorgt sich nur um die Terroristen, er sorgt sich nicht um uns. Dabei sind wir doch die Leute, die angegriffen wurden. Dennoch ist es eine Schande, dass Folter im Wahlkampf nicht diskutiert wurde.

Und wie geht es nun weiter?

Wenn es keinen weiteren Terroranschlag gibt, werden sich wohl die Gerichte mehr einmischen und sagen: Genug, ihr müsst das stoppen. In den Köpfen von James Madison und anderen, die die amerikanische Verfassung prägten, sollte der größte Schutz gegen den Missbrauch von Macht durch einen der drei Zweige des amerikanischen Regierungssystems auf der Existenz der zwei weiteren Zweige basieren. Soll eine der drei – also die Exekutive, die Legislative und die Judikative – ihre Macht missbrauchen, würden die anderen beiden aufstehen und sagen: Moment, das könnt ihr nicht machen.

Und für den Fall eines neuen Anschlags?

Wenn es einen weiteren Anschlag gibt, werden Bush und seine Anhänger dies nutzen, um sich mehr Macht zu verschaffen. Das bedeutet mehr Macht, frei von jeder Kontrolle durch die Gerichte. Terrorismus ist eine große Herausforderung. Ich möchte das nicht klein reden. Aber es ist auch eine Bedrohung für die Herrschaft des Rechts. Wenn wir unser Bekenntnis für das Gesetz aufgeben, bescheren wir dem Terrorismus einen großen Sieg.

INTERVIEW: ERIC CHAUVISTRÉ