Alle Orte, zu allen Zeiten

Deutschland (1) – die wöchentliche Kolumne aus der Republik von Henning Kober. Heute: die Zukunft

Da – Lauf die Oranienburger runter. Windig unter hellblauem Himmel.

Eine Frau in roter Lederjacke weiß etwas: „Junger Mann, sie bluten.“ Tatsächlich, mein Finger. Fühlt sich gar nicht so schlecht an.

Bitte an das hübsche Mädchen vor der Pizzeria: „Hältst du mal?“ Ihre Hand funktioniert, greift nach meiner Zigarette.

Ich rein, Serviette um die Wunde. Danke. Raus, Mädchen erlösen. Hallo, die Aktion versteht doch keiner. Ist doch nicht mehr US-Amerika.

DaDa – Wieder in Berlin. An dieser Stelle ab jetzt alles über Deutschland – so lange, bis es gut wird, oder ich ins Exil gehe.

Sitze in meinem Apartment über dem Alexanderplatz, Nordseite. Ist Deutschland ein kaputtes Land?

Der Kaufhof sieht aus wie nach einer Bombe. Aber wird ein „kleines KaDeWe“, wie der Sicherheitsmann gestern sagte. Mit Lichtkuppel, „dann können Sie den Himmel sehen“.

Schlecker hat mehr harten Alkohol im Angebot. Manchmal läuft noch eine kleine Hartz-Demonstration zum Roten Rathaus.

In ganz Mitte junge Gesichter aus Spanien, Italien, in Gruppen. Sie tragen alle schöne Sonnenbrillen. Multikulti-Land wegen Billigfiegen.

Das Telefon klingelt. Es ist mein Freund Valtin, der wohnt auch am Alexanderplatz, Südseite: „Hallo!“ „Hallo!“

Er ist gerade aufgewacht, das sagt die Stimme. Von seinem Bett am Fenster sieht er den Fernsehturm, Berlins hübscheste Leuchte, die uns immer nach Hause führt. Jetzt fragt er mich: „Was, wenn der Turm irgendwann nicht mehr da ist, das wird ja passieren?“

„Dann werden wir auch nicht mehr da sein“, sage ich schnell. Vor dreißig Jahren wurde angefangen zu bauen. Walter Ulbricht hat den Auftrag gegeben. 365 Meter Beton, so viele Meter wie Tage im Jahr. „Damit es keins meiner Schulkinder vergisst“, soll Margot Honecker gesagt haben. Heute ist er das höchste Bauwerk Westeuropas.

„Wovor hast du Angst“, frage ich Valtin.

Er weiß es nicht und spielt mir lieber was vor. „Du hast den Farbfilm vergessen“, singt Nina Hagen, und ich denke, wie lange hält Beton?

Die Furcht vorm arabischen Terror ist ja angenehmerweise schon wieder vergessen. Gibt es nie wieder Krieg auf deutschem Boden?

Die Frage ist schon ein totaler Nazi. Alles an Deutschland ist so schrecklich kompliziert.

Was wünscht man sich für dieses Land?

„Viel, aber eigentlich nichts“, sagt Valtin, denn: „Wenn wir kaputt gehen, dann bestimmt nicht wegen Deutschland.“

Ja, es liegt an uns, an allen Orten, zu allen Zeiten. Dann kommt Valtin rüber und wir malen an meine Fenster.