Scheue Rehe auf dem Balkon

Zur Grundsatzdebatte über den Kapitalismus als solchen schwingt Hamburgs Bürgerschaft sich auf. Beim Wirtschaftssenator liegen die Nerven blank, doch der Erste Bürgermeister präsentiert sich als großer Beschwichtiger und Prediger der Diskretion

von Markus Jox

Für anderthalb Stunden drehte die Hamburger Bürgerschaft gestern das ganz große Rad. Was scheinbar harmlos von der SPD unter dem Titel „Eigentum verpflichtet. Der Abbau von Arbeitsplätzen und die Phoenix-Werke“ für die Aktuelle Stunde angemeldet worden war, wuchs sich zu einer veritablen Debatte über die Möglichkeiten staatlicher Wirtschaftspolitik aus, an der sich auf dem Kulminationspunkt, wie ein Deus ex Machina, auch der Erste Bürgermeister beteiligte.

Zunächst hatte SPD-Landeschef Mathias Petersen die drohenden Arbeitsplatzverluste bei Phoenix in Harburg (siehe Kasten) gegeißelt und sich dabei als artiger Weihrauchschwenker seines großen Parteivorsitzenden erwiesen – die Müntefering‘sche Kapitalismuskritik, heruntergebrochen aufs Lokale. Mit seiner Rede, in der er sozialdemokratisch anmutende, eine „ökologisch-soziale Marktwirtschaft“ herbeisehnende Sätze des Ex-CDU-Generals Heiner Geißler herbeizitierte, brachte Petersen Wirtschaftssenator Gunnar Uldall (CDU) zur Weißglut.

Zornig hielt Uldall der SPD entgegen, dass „es einfach keinen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gibt“. Er stelle sich vor alle Hamburger Unternehmen, so der Standortsenator im mannhaften Brustton der Überzeugung. Zuvor hatte er über ein Versprechen des Conti-Chefs ihm gegenüber berichtet, den Standort Harburg zu erhalten. Die Konzern-Bosse hätten ihn sogar dazu ermächtigt, diese Zusage auch vor dem Parlament kundzutun, so Uldall mit stolz funkelnden Augen.

Als die Bürgerschaftsvizepräsidentin die Debatte gerade ermattet schließen wollte, sprang Ole von Beust alert zum Rednerpult und gab dem hohen Hause mal eben eine Lehrstunde in der Kunst der umarmend-präsidialen Rhetorik. „Ich unterstreiche, dass die soziale Marktwirtschaft auf Seiten der Wirtschaft nicht nur aus Heiligen besteht“, tat also der Bürgermeister weise kund. Wenn es irgendwo in der Wirtschaft Missstände gebe, könne man „diese im Zweifel auch beim Namen nennen – allerdings in aller Ruhe und Diskretion“, so das Beust‘sche Gesetz. „Herr Uldall“ halte dies im Übrigen auch so.

Sich „mit vollmundigen Solidaritätsbekundungen auf den Balkon zu stellen“, sei jedenfalls der falsche Weg. Er verkenne überhaupt nicht, „dass bei vielen Menschen unglaubliche Ängste und Sorgen da sind“. Leider gebe es aber „relativ wenige nationalstaatliche Möglichkeiten“. Man müsse europäische Standards schaffen, um Wettbewerb wenigstens europaweit einigermaßen ordnen zu können. „Bitte, bitte, wecken Sie keine falsche Hoffnungen, als sei das Problem über Nacht lösbar“, barmte Beust und raunte der Opposition düster zu: „Im Zweifel haben weder Sie noch die CDU etwas davon, sondern Rattenfänger, an denen wir beide kein Interesse haben.“

„Ihr Weg ist so diskret und leise“, antwortete SPD-Fraktionschef Michael Neumann dem Bürgermeister, „dass mittlerweile 868 Arbeitsplätze futsch sind“. Es brauche einen starken Staat, der durchaus auch zum Konflikt mit Unternehmen bereit sei und nicht „so windelweich wie der Bürgermeister eben“. Man dürfe aber, warnte er ebenso eindriglich wie metaphorisch, „den Mantel der Angst nicht über das scheue Reh Kapital ausbreiten“.