Kunscht und Chäs

ALPHORNBLASEN Pünktlich zum Schweizer Nationalfeiertag zog es das prallbunte alpenländische Kulturleben an die Spree, ins Radialsystem. Nicht nur olfaktorisch ist das Festival „Schweiz- genössisch“ äußerst intensiv

Den Todesschrei eines Wildschweins beherrscht Zehnder wie sonst keiner

VON KATHARINA GRANZIN

Seltsam, dass die Nase nicht schon vorher Witterung aufnimmt. Wahrscheinlich sind die Duftmoleküle des zwei Jahre gelagerten Emmentalers, der im zweiten Stock des Radialsystems das zu verzehrende Herzstück einer Installation darstellt, zu schwer, um den für die Dauer dieses Festivals „Sennerhütte“ genannten Raum zu verlassen. Denn das Treppenhaus ist völlig geruchsfrei.

Doch sobald man den Raum betritt, wird man von der olfaktorischen Aura des Altkäses vollständig umhüllt. Auf einem Dutzend Monitore, die hier im Rund stehen, sieht man,wie viele Produktionsstadien die Milch durchlaufen muss, um Käse zu werden. Einmal hineingeschoben von einem größeren Schwung kunstsinniger Chäsfreunde, entkommt man dem Geruch nicht so schnell. Die verantwortliche Künstlerin hält eine kleine Einführung, in der sie erwähnt, dass die Frau, die in der abgefilmten Käsefabrik die für die Käserei so wichtigen Mikroorganismen in ihrer Obhut hatte, Asiatin war. Das scheint lustig zu sein, denn sie lacht dabei.

Dieses Festival aber lebt eh weder vom Käs noch von der bildenden Kunst, sondern von performativen Künsten unterschiedlicher Art. Pünktlich zum Schweizer Nationalfeiertag zeigt „Schweizgenössisch“ eine prallbunte Auswahl des alpenländischen Kulturlebens an der Spree. Bis zum 6. August präsentiert man unter anderem ein Heidi-Musical für Kinder und Erwachsene vom Theater Kolypan, den virtuosen Blockflötisten Maurice Steger mit Musik des Frühbarock, zeitgenössisches Tanztheater mit der Compagnie Drift und, am letzten Festivalabend, ein Konzert des Experimentaljodlers Noldi Alder.

Die Tracht ausgezogen

Alder, Sproß einer Appenzeller Musikerfamilie, der irgendwann die Tracht ausgezogen hat, um eigene musikalische Wege zu gehen, ist einer der Protagonisten des gefeierten Musikfilms „Heimatklänge“ von Stefan Schwietert. Mit „Heimatklänge“ wurde auch das Festival eröffnet. Das ist nur angemessen, denn die deutlich gestiegene öffentliche Wahrnehmung der Schweizer Musikszene im deutschsprachigen Raum verdankt sich sicher in hohem Maße Schwieterts Film. Zwei seiner drei Protagonisten, Noldi Alder und Christian Zehnder, sind zwei auf dem Festival vertreten.

Zehnder bestreitet mit seinem Duo-Partner Balthasar Streiff den ersten Abend. Seit 1996 treten die beiden als „Duo stimmhorn“ gemeinsam auf. Die menschliche Stimme und zahlreiche Blasinstrumente, größtenteils ur-alpenländischer Provenienz, kommen bei stimmhorn zum Einsatz. Streiff, der Bläser, hat neun Instrumente dabei, darunter so unwahrscheinliche wie ein Doppelalphorn, ein Alpofon, ein Büchel und ein Ziegenhorn. Zehnder, der Sänger, spielt auf seinem Wippkordeon und ein bisschen auf der gitarrenähnlichen Bandurria und bringt vor allem ein unglaublich weites Spektrum dessen zu Gehör, was die menschliche Stimme überhaupt an Tönen zu produzieren imstande ist. Er beherrscht virtuos den Obertongesang und war, das konnte man früher am Abend sehen, auch schon bei den Asiaten; man sieht ihn im Film mit den Musikern des Quartetts Huun-Huur-Tu aus der sibirischen Tuva-Region bei einer Oberton-Jamsession in der Jurte. Er kann, das hört man im ausverkauften Konzert, nicht nur Obertöne produzieren, sondern in der Obertonreihe auch Melodien intonieren.

Dass er auch jodelt, versteht sich von selbst, den Todesschrei eines Wildschweins beherrscht er wie sonst keiner. Streiff und Zehnder haben eine „Kann ich auch“-Nummer im Repertoire, bei der ihre jeweiligen Instrumente sich gegenseitig imitieren. Streiff hat dafür das Alpofon (ein Alphorn, das zur Form eines Saxofons umgebogen ist), Zehnder die Stimme. Der Vergleich endet durchaus unentschieden. Wenn das Stimmhorn ein Körperteil wäre, und vielleicht ist es das ja, so ist es bei dem einen nach außen gewachsen, bei dem anderen nach innen. Auf jeden Fall ist es auf großartige Weise polymorph.

Am Schluss gehen wir noch mal kurz oben gucken, wie viel vom alten Emmentaler übrig ist. So reichlich, dass wir gern noch ein Stückchen nehmen, dabei plötzlich registrierend, dass die mitgeführte Schweizer Freundin verschwunden ist. Draußen im Treppenhaus finden wir sie, bleich an der Wand lehnend, wieder. Ihr sei übel, flüstert sie schwach. Es identifiziert sich halt nicht jeder Schweizer mit Käse.

Schweizgenössisch noch bis 6. August im Radialsystem, Infos unter www.schweizgenoessisch.com