Stimmabgabe im Pflegeheim

Wer noch sein Geld beisammen halten kann, darf auch mitstimmen: Im Altenpflegeheim entscheidet die Gesundheit über die Landtagswahlen

„Will sich eine Partei entfalten, muss sie es gut mit Rentnern halten“„Ich habe immer Angst, dass mein Wahlhelfer nicht wählt, was ich will.“

AUS NEUSS LUTZ DEBUS

Wieselflink läuft die alte Dame auf ihren dürren Beinen durchs Zimmer. Immer wieder deutet sie auf den Rand ihres Bettes, stößt dabei unverständliche Laute aus. Vor kurzem hatte die 90-Jährige einen Schlaganfall. Das Sprachzentrum ist stark betroffen. Jörg Mathissen, der zuständige Sozialarbeiter, versteht ihre Gesten und Laute nicht. Immer aufgeregter wird die Frau. Dann hat er eine Idee: „Möchten Sie an Ihrem Bett ein kleines Gitter haben, damit Sie nachts nicht herausfallen?“ – „Aaaaah!“, erwidert die Dame. Das „J“ kann sie nicht mehr aussprechen. Beruhigt lässt sie sich in ihren Plüschsessel fallen. Ein kleiner Tisch aus Messing und Glas steht daneben. An der Wand hängt ein in Gold gerahmtes Ölgemälde von einer Waldlichtung. Der Rest des Mobiliars ist funktional, ein Kleiderschrank, ein Sideboard, ein Krankenhausbett. Die alte Dame wird am 22. Mai an der Landtagswahl teilnehmen.

Im Haus Nordpark, dem Wohn- und Pflegehaus der Vinzenzgemeinschaft Neuss, wird ein Wahllokal eingerichtet. Obwohl etwa 80 Prozent der 120 Bewohner mehr oder weniger verwirrt sind, ist es doch vielen möglich, an Wahlen teilzunehmen. Jörg Mathissen zitiert aus einer Broschüre: „Nach dem Betreuungsrecht behalten Betreute das Wahlrecht, sofern nicht eine umfangreiche Betreuerbestellung für alle Angelegenheiten erfolgt ist.“ Das heißt: Nur wer auf Grund gesundheitlicher Einschränkungen selbst nicht mehr entscheiden kann, wofür er sein Geld ausgibt, wer ihn medizinisch wie behandelt und wo er dauerhaft wohnt, verliert sein Wahlrecht. Wenn eine Betreuung nur für manche Lebensbereiche eingerichtet ist, darf der Betreute nach wie vor wählen.

Solange die Bewohner nur körperlich eingeschränkt sind, so Mathissen, sei die Wahl kein Problem. Selbst wenn die alten Menschen nicht mehr aufstehen können, nicht mehr sitzen können, besteht für sie die Möglichkeit der direkten Stimmabgabe: Notfalls werde das Bett mit in die Wahlkabine geschoben. Für die Stimmabgabe genügt ein Knopfdruck. Außerdem könnten die Alten per Briefwahl mitstimmen. Der Antrag dafür und auch die Erklärung, selbst gewählt zu haben, muss von den Bewohnern selbst unterschrieben werden.

Wie aber wählen die geistig verwirrten Menschen im Haus Nordpark? „Manche Bewohner sind ja nur vergesslich, nicht völlig durcheinander“, gibt Mathissen zu bedenken. Aber das, was mit dem Wahlschein passiert, wenn er diesen den gerichtlich verfügten Betreuern aushändigt, entzieht sich seiner Kenntnis. Oft sind es die Kinder der Senioren, die die Post ihrer Eltern in Empfang nehmen. Ob da die eine oder andere Unterschrift gefälscht wird, ob da manch alter Mensch nicht recht weiß, was er unterschreibt, was er letztlich wählt, kann Mathissen nicht sagen: Das findet hinter verschlossenen Türen statt. Aber eine Tochter einer schwer verwirrten Bewohnerin habe vor einigen Jahren einmal gesagt: „Es wäre doch schade, wenn ihre Stimme verloren ginge.“

Im Aufenthaltsraum findet gerade die Werktherapie statt. Zwanzig Damen sitzen um einen großen Tisch und stricken. Oft wird in diesem Kreis über Politik geredet. „Die da oben machen ihre Taschen voll und für uns bleibt nichts übrig.“ So lautet der Grundtenor in der Runde. Eine Frau, die lila Wolle um daumendicke Holzstäbe fädelt, beginnt sogar das Reimen: „Will sich eine Partei entfalten, muss sie sich gut mit Rentnern halten!“

Eine andere Bewohnerin wird konkreter: „Die Therapie für meine Beine, die mir so gut tat, die wurde mir einfach gestrichen.“ Ihre Nachbarin schließt sich an: „Mein Taxi zum Arzt muss ich jetzt selbst bezahlen. Ich kann doch mit meinen 98 Jahren nicht in die Straßenbahn.“ Manche bekämen die Fahrt noch bezahlt. Die, die zur Chemo müssen oder zur künstlichen Niere. Aber sie nicht. „Aber dann wären Sie doch in der Pflegestufe II und Ihre Angehörigen müssten noch mehr zuzahlen! So ist jetzt doch noch günstiger für Sie“, erklärt Jörg Mathissen. Derweil strickt Christa Hein mit fünf Nadeln eine Socke. „Der Staat soll doch nicht immer mehr unsere Kinder belasten. Die müssen doch selbst für sich und ihre Rente sorgen. Die können doch nicht so viel für uns zuzahlen.“ Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Viele nicken.

Und was wählen denn die strickenden Frauen? Zunächst verlegenes Schweigen. Nur die Dame mit der lila Wolle äußert sich: „Ich hab‘ schon immer CDU gewählt.“ Und die anderen? Wählt jemand vielleicht auch kleine Parteien? Grün? Rot? Braun? Oder die Grauen? Die inzwischen 80-jährige Trude Unruh aus dem Bergischen kennen zwar einige. Aber auf diese Fragen reagieren die Versammelten mit Kopfschütteln. Wählerinnen radikaler Parteien sind hier nicht zu finden. Da meldet sich noch einmal Christa Hein zu Wort: „Wissen Sie, ich bin blind. Ich habe immer Angst, dass mein Wahlhelfer nicht das wählt, was ich ihm gesagt habe. Ich kann das ja nicht nachprüfen.“

Abseits des Handarbeits-Treffs gibt es auch noch ein anderes, wichtiges politisches Thema: „Was ist, wenn ich nicht mehr kann?“ Nicht erst durch die Medienberichterstattung über den Fall der US-amerikanischen Koma-Patientin Terri Schiavo befürchten die alten Menschen am Neusser Nordpark, dass in ähnlichen Situationen gegen ihren Willen gehandelt werde. Natürlich verfassen viele Bewohner deshalb Patientenverfügungen, weiß Jörg Mathissen. Aber diese sind zur Zeit noch nicht rechtsverbindlich.

Viele Senioren in seiner Einrichtung wollen keine lebensverlängernden Maßnahmen, wenn es keine Hoffnung auf Genesung gebe. Trotzdem muss bei jeder bedrohlichen Entwicklung einer Erkrankung der Notarzt gerufen werden. Ansonsten würde sich das Heim der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Dem Notarzt werde die Patientenverfügung ausgehändigt. Aber dieser entscheide letztlich im eigenen Ermessen, was zu tun oder eben zu lassen sei. Die rechtsverbindliche Anerkennung von Patientenverfügungen wäre, so Jörg Mathissen, für viele alte Menschen eine seelische Erleichterung. Bei diesem Thema gehe das politische Gerangel quer durch alle Parteien. Außerdem sei das ja eine Frage an die Bundespolitik.

In einem Zimmer am Ende des Flures liegt eine Frau in ihrem Bett. Ihre Augen sind geschlossen. Ihr Gesicht sieht aus wie Wachs. Die Konturen ihres zierlichen Körpers drücken sich sacht durch die weiße Decke. Mit Hilfe eines Schlauches erhält sie durch die Nase Sondennahrung. Leise hört man ihren Atem. Von draußen dringt Geschirrgeklapper durch die geschlossene Tür. Regelmäßig werde sie umgebettet damit sich die Haut nicht durchscheuert. Morgens und abends werde sie gewaschen, würden ihre Zähne geputzt. „Nein, diese Bewohnerin wird nicht wählen.“ Da ist sich Jörg Mathissen ganz sicher.