Unbequeme Vieldeutigkeit

Regina Scheer stellt in der Neuen Gesellschaft ihr Buch über die jüdische Widerstandsgruppe um Herbert Baum vor

Das Gedenken und die Erinnerung an die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und ihrer Verbrechen ist auch im 60. Jahr der Wiederkehr der Befreiung geprägt von widerstreitenden Deutungen. Die Kontroversen um die Fragen, ob Deutsche nur Täter oder nicht auch Opfer alliierter Bombenangriffe oder der Vertreibung aus den Ostgebieten 1944/45 seien, dokumentieren auch Bestrebungen, Geschichte von unbequemer Vieldeutigkeit in historisierende Relativierungen zu überführen.

Seit der Wiedervereinigung 1990 ist diese Dynamik um die Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen Aufarbeitung des NS-Faschismus in den beiden deutschen Staaten erweitert worden. Mit einer Veranstaltung zur Berliner Widerstandsgruppe um Herbert Baum thematisiert die Neue Gesellschaft jetzt die unterschiedlichen Vorzeichen geschichtlicher Erforschung der NS-Zeit am Beispiel des damaligen antifaschistischen Widerstands. In Kooperation mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden, der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte und der Buchhandlung Seitenweise wird die Berliner Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Regina Scheer ihr 2004 erschienenes Buch über die Herbert-Baum-Gruppe vorstellen.

Im Schatten der Sterne – Eine jüdische Widerstandsgruppe rekonstruiert die Geschichte um Herbert und Marianne Baum sowie um Martin und Sala Kochmann, die zahlreiche Jugendliche in ihrer Gruppe organisierten. Die jungen Jüdinnen und Juden stammten aus sehr unterschiedlichen Spektren wie dem Deutsch-Jüdischen Wanderbund, sozialistischen und kommunistischen Gruppen und linkszionistischen Zusammenschlüssen.

Nachdem die Gruppe sich zunächst auf die Verteilung illegaler Materialen gegen das Regime beschränkte, begannen sie 1941, junge jüdische Zwangsarbeiter in Berlin zu organisieren. Unter dem Eindruck der beginnenden Deportationen entschloss sich die Gruppe im Mai 1942 zu einem Anschlag auf die antikommunistische Wanderausstellung Das Sowjetparadies. Diese Aktion richtete nur geringfügige Schäden an, führte jedoch zur Festnahme der meisten Gruppenmitglieder, von denen 1942/43 nach Urteilen des Volksgerichtshofs 27 hingerichtet wurden.

Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren und in der DDR aufgewachsen, rekonstruiert die Erforschung der Herbert-Baum-Gruppe als Teil deutsch-deutscher Erinnerungspolitik mit ihren jeweiligen Ausprägungen. Während sich in Westdeutschland die Erforschung des Widerstands gegen das NS-Regime lange auf die Beschäftigung mit dem 20. Juli konzentrierte und die Herbert-Baum-Gruppe in der offiziellen Forschung nahezu nicht vorkam, setzte sich in der DDR die offizielle SED-Leitlinie durch. Hier war die Gruppe Teil des Widerstands der Arbeiterbewegung, und der „Legende von einer spezifisch jüdischen Widerstandsbewegung“ wurde vehement entgegen getreten.

Paradoxerweise hat sich aber Herbert Baum selbst tatsächlich als Kommunist und Atheist verstanden, der seine jüdische Konfession als zufällig betrachtete. Trotzdem haben die antijüdischen Gesetze und die drohenden Deportationen die faktische illegale Arbeit der Widerstandsgruppe maßgeblich bestimmt. So macht Scheer mit ihrer Einschätzung, dass es sich bei den Aktivitäten der Gruppe um „jüdischen Widerstand“ handelte, deutlich, dass geschichtliche Erinnerung immer auch Teil gegenwärtiger Deutungen ist. Insoweit bietet die Veranstaltung der Neuen Gesellschaft die Chance, zentrale methodische Probleme bei der gesamtdeutschen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit kennen zu lernen.

Andreas Blechschmidt

Regina Scheer: Im Schatten der Sterne. Berlin 2004, 487 S., 24,90 Euro. Lesung: Mi, 27.4., 19 Uhr, Neue Gesellschaft (Rothenbaumchaussee 19)