Untergang eines Nationalmythos

„Neutralität war eine Illusion“, sagt die schwedische Historikerin Ingrid Lomfors. In ihrem Buch „Blind Fläck“ rollt sie den Hilfseinsatz des schwedischen Roten Kreuzes von 1945 neu auf und fragt nach den Häftlingen, die bei dieser Rettungsaktion auf der Strecke blieben

taz: Frau Lomfors, wieso behaupten Sie, der Einsatz der Weißen Busse sei nicht humanitär gewesen?

Ingrid Lomfors: Die Weißen Busse retteten vielen Menschen das Leben. Gleichzeitig brach Bernadotte mit den Grundsätzen des Internationalen Roten Kreuzes. Ich habe kein Interesse daran, die Bedeutung des Einsatzes zu reduzieren. Ich möchte nicht den Ruhm der Retter schmälern. Ich habe Ehrfurcht vor ihrem Handeln, vor dem, was sie für die Inhaftierten getan haben, die sie mit nach Schweden nahmen. Aber die Rettung hatte einen hohen Preis.

Wie sehen die Häftlinge, die nicht nach Norden fuhren, sondern verlegt wurden, die Aktion heute?

Ich habe immer wieder danach gefragt. Einer der französischen Männer, die ich besucht habe, hatte sein Wohnzimmer mit Bildern der Busse, Folke Bernadottes und des schwedischen Königshauses dekoriert, obwohl er nicht gerettet wurde. Er sagte kein schlechtes Wort. Erst Monate später bekam ich einen Brief von einem anderen französischen Überlebenden, der mir schrieb, dass er die Aktion für einen Nachweis schwedischer Naivität gehalten habe, sich von den Rettern betrogen vorkam.

Warum hat vor Ihnen niemand dieses Thema historisch untersucht?

Es gibt in Schweden eine Generation von Historikern, die in sich so homogen wie ihre Forschung ist. Für sie waren die Busse und Bernadotte kein Thema. Diese Geschichte ist zwar sehr populär, jeder hat eine Verbindung dazu, alle kennen sie. Trotzdem gibt es keine professionelle historische Untersuchung.

Wollte man die Wahrheit nicht wahr haben?

Es gibt verschiedene Wahrheiten. Aber gerade in einem Land, in dem Bernadotte und die Busse eine so entscheidende Rolle einnehmen, auch für die Ausformung unserer nationalen Identität, brauchen wir mehrere Ansätze, seine Geschichte zu schreiben. Er steht an zentraler Stelle stellvertretend für unser Selbstbild: für unsere politische Neutralität.

Wem schadet dieses Selbstbild?

Es ist vor allem eine Illusion. Es schadet vermutlich niemandem. Im Gegenteil: sich mit Menschen wie Bernadotte oder Raoul Wallenberg zu identifizieren oder identifiziert zu werden, war angenehm und einfach. Aber mich als Historikerin und Bürgerin dieses Landes stört es, wenn ich merke, dass hier Illusionen als Wahrheit verkauft werden, um einen politisch-nationalistischen Zweck zu erfüllen. So Geschichte zu schreiben, heißt ein Fisch zu sein, der nicht weiß, dass er im Wasser schwimmt. Die so genannte Neutralität bedeutete eben auch, dass wir nicht genug auf der richtigen Seite geholfen haben.

Fragen: Markus Flohr