ethikunterricht
: Werte stammen aus dem Diesseits

Die Christdemokraten versuchen, die Auseinandersetzung um den verpflichtenden Werteunterricht an Berliner Schulen zu einer schwungvollen Kampagne gegen die gottlosen Rot-Grünen zu nutzen – und das noch bundesweit. Auch der Kanzler und andere führende Sozialdemokraten hegen diese Befürchtung. Sie warnen vor einem Rückfall in Positionen vor der Wasserscheide des Godesberger Programms, das der Sozialdemokratie erst den Weg zu religiös gebundenen Wählern beider Konfessionen gebahnt habe.

KOMMENTAR VON CHRISTIAN SEMLER

Offensichtlich glaubt die CDU, Kapital aus der millionenfachen seelischen Erschütterung schlagen zu können, die der Tod des Papstes auch in der deutschen Bevölkerung ausgelöst hat. War es nicht der Kirchenmann Wojtyła, der so erfolgreich als Erzieher der Jugend wirkte? Und bieten deshalb nicht die Kirchen die zuverlässigste Instanz für die Wertevermittlung an Schulen?

Der Irrtum, dem die CDU hier bei ihrem Ankopplungsversuch unterliegt, liegt darin, dass zwischen neu erwachten religiösen Bedürfnissen in der Gesellschaft und den kirchlichen Institutionen samt ihren Dogmen und Lehrinhalten ein Gleichheitszeichen gesetzt wird. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Empirische Untersuchungen bis in die jüngste Zeit belegen, dass zwar das gesellschaftliche Engagement der Kirchen in Deutschland geschätzt wird – dass hingegen ihre Verkündigungen über das Jenseits mit Unverständnis bis Ablehnung bedacht werden. Dabei sind gerade jene „letzten Dinge“ der bedeutendste Gegenstand des Religionsunterrichts.

In der Praxis funktioniert bei uns Wertevermittlung nicht mehr vor dem Hintergrund religiöser Transzendenz. Sie geschieht in der Form gesellschaftlicher Übereinkünfte, in denen sich der Traditionsbestand der Werte wandelt. Die „Werte generierende“ Wirkung der ökologischen und der Friedensbewegung sind hierfür schlagende Beispiele.

Zwischen dem ethischen Minimum – den von allen geteilten Werten – und dem Konsens in der Bevölkerung über die Prinzipien der Verfassung besteht ein enger Zusammenhang. Aber der bezieht sich gerade nicht auf die angebliche religiöse Fundierung des Grundgesetzes. Die Anrufung Gottes in dessen Präambel ist rechtlich wie politisch irrelevant. Der CDU wird es nicht gelingen, die Anhänger eines verpflichtenden Werteunterrichts als Verfassungsfeinde zu denunzieren und daraus Wahlkampfkapital zu schlagen.