Werte auf dem Sonderweg

Das Christentum in Deutschland ist in Gefahr, ruft die CDU. Und die SPD-Spitze rudert sofort zurück. Dabei steht die deutsche Praxis ziemlich allein da

VON RALPH BOLLMANN

Endlich mal wieder ein Thema, über das sich die Kontrahenten noch richtig aufregen können. Mindestlohn? Da sind sich sowieso alle einig. Visa-Affäre? Uninteressant, seit Fischer vor den Untersuchungsausschuss treten will. Religionsunterricht? Da braucht sich nur eines der 16 Bundesländer einen kleinen Schritt zu machen, und schon ist die Erregung da. Allmählich versteht man, wie es in früheren Jahrhunderten zu Religionskriegen kam.

Gestern hat sich, auf Antrag der CDU, sogar der Deutsche Bundestag mit einem Beschluss des Berliner SPD-Landesparteitags beschäftigt. Die Opposition spricht, so ihr parlamentarischer Geschäftsführer Norbert Röttgen, von einem „aggressiven Akt gegen Religion in der Gesellschaft“ – und das nur, weil in Berlin, wo der Religionsunterricht bislang freiwillig war, ein verbindlicher „Werteunterricht“ eingeführt werden soll (siehe unten).

Nicht nur Röttgen fand dafür harsche Worte. Das Thema ist für die Opposition auch deshalb so dankbar, weil sie einmal mehr eine gespaltene SPD vorführen kann. Kanzler Gerhard Schröder kritisierte die Berliner Entscheidung. Bundestagspräsident Thierse warnte gar vor einem „Rückfall in klassenkämpferische Kategorien“ und sieht die Parteifreunde in der Hauptstadt „hinter Godesberg zurückfallen“. Parteichef Franz Müntefering soll ihm in der jüngsten Sitzung des Parteipräsidiums beigepflichtet haben, bekundet aber öffentlich Respekt vor der „Kulturhoheit“ Berlins.

Vom Katholiken Wolfgang Thierse einmal abgesehen, der in Religionsfragen tatsächlich ein Überzeugungstäter ist, entspringen die Absetzbewegung der SPD-Bundesspitze eher taktischem Kalkül. Sie wissen: In der Frage des Religionsunterrichts, die in Deutschland von jeher heiß umstritten ist, lässt sich für Wahlkämpfer nichts gewinnen, aber viel verlieren. Schon bei den Verhandlungen über die Weimarer Reichsverfassung von 1919 beschäftigte das Thema die Unterhändler mehr als jedes andere. Und bei den Beratungen über das Grundgesetz 1948 war ein Konsens in derart weiter Ferne, dass der Parlamentarische Rat kurzerhand die Passagen aus der Weimarer Vorlage übernahm.

Ausnahmen gab es lediglich für Bremen und Berlin, wo die Alliierten zwischenzeitlich eine strikte Trennung von Staat und Kirche nach US-Vorbild durchgesetzt hatten. Eine „bewusste Antwort“ auf die „Erfahrung von Diktatur und Religionslosigkeit in der Nazizeit“, wie CDU-Mann Röttgen glaubt, ist das deutsche Modell daher nicht. Mit seinem Hinweis auf deutsche Besonderheiten trifft Röttgen aber einen wichtigen Punkt: Mit dem Modell eines obligatorischen Religionsunterrichts, der von konfessionsgebundenen Lehrkräften erteilt wird und nur durch die Flucht ins „Ersatzfach“ Ethik abzuwenden ist, steht Deutschland mittlerweile ziemlich einsam da.

Für die klassischen Demokratien Frankreich und Amerika ist die strikte Trennung von Staat und Kirche von jeher selbstverständlich – was, wie insbesondere das Beispiel USA überdeutlich demonstriert, den Kirchen keineswegs geschadet hat. In Amerika ist die religiöse Erziehung schon seit 1791 aus den Schulen verbannt, in Frankreich wurden die Religionslehrer 1886 endgültig ausgesperrt – eine Regelung, die durch die offizielle Trennung von Kirche und Staat 1905 besiegelt wurde.

In Italien war der Religionsunterricht nach dem Zerwürfnis mit dem Papsttum 1871 bestenfalls geduldet, erst der Faschist Benito Mussolini machte ihn nach dem Abschluss des Konkordats von 1929 wieder zur Pflicht. In den konfessionell gespaltenen Niederlanden wurde er nach langem Streit an den öffentlichen Schulen schließlich ganz abgeschafft.

Aber auch in den Ländern, in denen sich die liberale Lehre der strikten Trennung von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert nicht durchsetzen konnte, machen in jüngerer Zeit Einwanderung, allgemeine Entkirchlichung und konfessionelle Durchmischung dem bekenntnisgebundenen Religionsunterricht den Garaus. In Großbritannien ist seit 1988 nicht mehr die Kirche, sondern die Schulbehörde für den Lehrplan verantwortlich. Schweden hat den konfessionellen Unterricht durch ein weltanschaulich neutrales Fach „Religion, Ethik, Lebenskunde“ ersetzt – ein ähnliches Modell, wie es jetzt auch das Land Berlin einführen will.

Der Weg, den die Hauptstadt jetzt beschreitet, ist im europäischen Maßstab also keineswegs ein Sonderweg. Das bedeutet nicht, wie in allen Reformdebatten suggeriert, dass Deutschland alles machen müsse wie die anderen. Doch die Behauptung, das Berliner Modell sei abwegig, ist vor diesem Hintergrund eindeutig falsch.