Jung, jünger, sucht- und drogengefährdet

Über vier Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen sind von Alkohol, Nikotin oder anderen Drogen abhängig. Noch einmal so viele gelten als suchtgefährdet – und das Einstiegsalter der oft jugendlichen Konsumenten sinkt immer mehr

KÖLN taz ■ „Unsere Gesellschaft wird immer süchtiger“, beklagt Rainer Kukla. Nach Angaben des Gesundheitsdezernenten des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) werden derzeit rund 14.000 Menschen in den NRW-weit neun LVR-Kliniken mit Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie wegen eines Abhängigkeitsproblems behandelt. Damit hat jeder zweite Patient in den Rheinischen Kliniken eine Suchterkrankung durch Alkohol, Tabak, Medikamenten oder andere illegale Drogen. Besonderes dramatisch ist die Entwicklung bei Jugendlichen. „Seit 1997 hat sich die Fallzahl der neu aufgenommenen suchtkranken Minderjährigen verfünffacht“, erklärte Michael van Brederode von der Planungsstelle des LVR auf dem dritten nordrhein-westfälischen Kooperationstag „Sucht und Drogen“ in Köln.

Auf der Tagung tauschten sich rund 400 Experten in 19 Workshops über die neuesten Entwicklungen im Suchtbereich aus. Nach Erkenntnissen der Landesregierung sind mehr als vier Millionen Menschen im Land abhängig. „Schätzungsweise noch einmal so viele sind suchtgefährdet“, umriss Cornelia Prüfer-Storcks vom Gesundheitsministerium die Dimension des Problems. Deshalb wolle die Landesregierung durch die Fachtagung in Köln eine bessere Zusammenarbeit aller Einrichtungen im Bereich Suchtvorbeugung, Suchthilfe und Wiedereingliederung fördern.

Wolfgang Rometsch vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) sprach insgesamt dennoch von einer „erfreulichen Entwicklung“ im Suchtbereich. Der Alkohol- und Tabakkonsum gehe in Deutschland minimal zurück. Der Konsum anderer Drogen stagniere. Nach wie vor seien die Deutschen aber weltweit an der Spitze beim Alkoholgenuss, schränkte Rometsch ein. „Weltweit sind wir auf Platz fünf.“ Richtige Kopfschmerzen bereitet den Suchtexperten jedoch die Gruppe der 12- bis 16-Jährigen. „30 bis 40 Prozent der Jugendlichen haben Erfahrung mit Cannabis“, sagt Rometsch. Außerdem greifen immer mehr junge Mädchen zur Zigarette.

Angesichts der Zunahme des Konsums legaler und illegaler Drogen bei Jugendlichen müssten die Hilfsangebote mit der Kinder- und Jugendhilfe besser verzahnt werden. „Damit wird der frühe Zugang zur Hilfe erleichtert“, so Staatssekretärin Prüfer-Storcks. Früherkennung und Frühintervention seien gerade bei Suchtkranken entscheidende Voraussetzungen, um sie erfolgreich zu behandeln. „Wir müssen über die Kindergärten und Schulen an die Kinder herangehen.“ Wie dies erfolgreich praktiziert werden kann, zeigt ein Beispiel aus Hamm. Die dortige „Jugend(sucht)beratung“ des Arbeitskreises für Jugendhilfe hat für Kinder, Jugendliche und deren Angehörige ein regionales Netzwerk aufgebaut, in dem präventive und medizinische Ansätze eine Rolle spielen.

Eine weitere Problemgruppe sind die Migranten. „Sie sind wegen der Sprachprobleme und kultureller Unterschiede schwer erreichbar“, betonte Gesundheitsstaatsekretärin Prüfer-Storcks. Dabei haben 10 Prozent der Drogentoten einen Migrationshintergrund. Bisher fehlen den Experten zuverlässige Konzepte, wie sie beispielsweise bei Spätaussiedlern frühzeitig helfen können. Abhilfe könnte ein Modell aus Münster schaffen, das auf der Fachtagung vorgestellt wurde. Das Projekt „Sekundäre Suchtprävention für spätausgesiedelte junge Menschen in Münster“ (SeM) schließt eine Versorgungslücke für diese Gruppe: Bisher gab es nur städtische Jugendeinrichtungen, aber keine Suchthilfe – jetzt soll eine spezielle Beratung beim Ausstieg helfen. THOMAS SPOLERT