HAMBURGER SZENE VON REBECCA CLARE SANGER
: Kurz vor zwölf

Es ist fünf vor zwölf an einem Freitag, und mein Ohrenarzt macht um 12 Uhr zu. Ich gehe aus Zeitdruck und Faulheit zum Fahrstuhl, eine ältere Dame hat ihn bereits gerufen. Beim Einsteigen fragt sie, wo ich hinwolle – ich in den dritten, sie in den vierten und ich schiele auf die Geschossanzeige mit den dazugehörigen Arztpraxen: zwei psychiatrische, ein Orthopäde.

Der Wahrscheinlichkeit nach müsste sie also einen Psychiater aufsuchen wollen, andererseits ist sie schon älter, vielleicht hat sie Knochenbeschwerden. Niemand in diesem Haus, weder die geschäftigen Apothekerinnen unten, noch die tüchtigen Arzthelferinnen oben, auch nicht die Kinder im Wartezimmer haben Augen, die so verloren und blau aussehen. „Halten Sie mich für doof?“, fragt sie, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzt. „Mein Mann findet, ich bin blöd, seit ich den Schlaganfall gekriegt habe.“

Ich widerspreche ihr vehement. Natürlich nicht!

Im dritten Stock will die Dame mir folgen. „Sie fahren noch einen weiter, in den vierten!“ erkläre ich ihr. Natürlich schließt sich die Fahrstuhltür zwischen uns. Natürlich frage ich mich, wen sie um diese Zeit noch sehen will. Wie sie überhaupt hierher gefunden hat. Ob ihr Mann tatsächlich gesagt hat, sie sei doof.

In den vierten Stock bin ich danach nicht mehr gegangen. Ich hatte Angst, dass sie dort noch stehen könnte.