„Es gibt eben nicht nur eine Wahrheit“

Die Religionslehrerin Ruthild Hockenjos hält die Debatte um den Werteunterricht für „unverständlich hitzig“. Selbstverständlich brauche die Stadt ein gemeinsames Fach für alle Kinder: „Austausch und Streit sind notwendig“

taz: Frau Hockenjos, Sie waren bis zu Ihrer Altersteilzeit vor zwei Jahren evangelische Religionslehrerin. Dennoch fänden Sie es richtig, wenn künftig ein verpflichtender Werteunterricht für alle Kinder eingeführt würde, ohne die Möglichkeit, sich zu Gunsten von Religion abzumelden. Warum?

Ruthild Hockenjos: Meine Erfahrung ist, dass das Wissen über Religionen aus der Schule ausgewandert ist. Die Eltern sind oft kirchenfern, die Kinder wollen lieber eine Freistunde als Religionsunterricht. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Nach meinem Verständnis gehört Religion zum Menschenbild. Man kann sich dagegen entscheiden, aber vorher muss man lernen, worum es geht. Und man muss wissen, was andere Menschen, mit denen man gemeinsam in einer Stadt lebt, so treiben.

Was spricht gegen ein Fach nach Brandenburger Modell, was der SPD-Bildungssenator gerne einführen möchte? Dabei können sich die Kinder zwischen Werteunterricht und Religion entscheiden.

Das wäre eine vertane Chance. Meine Erfahrung aus Grund- und Hauptschule ist, dass alle Kinder davon profitieren, wenn sie miteinander ins Gespräch kommen. Allen tut es gut, voneinander zu hören und von den anderen in Frage gestellt zu werden: Sie erfahren, dass nicht jeder den gleichen Islam glaubt, dass es Kinder gibt, für die Religion das allerwichtigste ist, und was Christentum zum Beispiel für Kinder aus afrikanischen Ländern bedeutet. Es gibt eben nicht nur eine Wahrheit. Damit müssen wir umgehen. Und das müssen die Kinder lernen.

Wäre dafür ein gemeinsames verpflichtendes Wertefach für alle Kinder unter staatlicher Kontrolle das Richtige?

Ja, die Richtung ist die richtige. Wichtig aber ist dabei, dass es eine Plattform geben muss, wo Religionsgemeinschaften und Schulbehörde an einem Tisch sitzen und über dieses Fach im Gespräch bleiben. Ein solcher Prozess, bei dem sich diese Gruppen austauschen müssen, würde auch der Stadt gut tun. Die Frage nach der gezielten religiösen Erziehung ist aber eine ganz andere. Die hat nach meiner Auffassung in der Schule keinen Raum mehr. Da sind die Gemeinden und Religionsgemeinschaften gefragt.

Verstehen Sie die Erregtheit, mit der die Kirchen für ihren Religionsunterricht streiten?

Ich verstehe die Existenzangst der Religionslehrer. Sie sind seit Jahrzehnten in einer unsicheren Situation, weil immer offen war, wie es mit dem Religionsunterricht weitergeht. Sie haben übrigens wenig Rückendeckung von ihrem Arbeitgeber bekommen.

den Kirchen.

Trotzdem finde ich die Debatte unverständlich hitzig. Es ist eine wichtige Frage, wie das Thema Religion in einer multikulturellen Gesellschaft im Bildungssystem seinen Platz findet. Dem entspricht nicht, dass eine Religion die Federführung übernimmt. Deutschland ist zwar noch immer weitgehend christlich geprägt, aber es gibt eben auch viele andere Religionen und viele Religionslose. Meine Forderung ist, dass sich Schule diesem Thema insgesamt stellen muss. Ich habe in England gesehen, dass es einen runden Tisch der Religionen gibt, die gemeinsam mit der Schulbehörde ein Curriculum erarbeiten. Da gibt es natürlich heftigen Streit. Aber diesen Streit brauchen wir in dieser Stadt.

Sie haben diese Idee aus England nach Berlin gebracht und eine Werkstatt der Religionen und Weltanschauungen gegründet. Was ist das genau?

Einmal versuchen wir, an einem großen runden Tisch miteinander einen Dialog zu führen. Am Tisch sitzen nicht die Funktionäre der verschiedenen Gruppen, sondern normale Angehörige, die auskunftsfähig sind und miteinander ins Gespräch kommen wollen. Das sind so 15 bis 25 Leute aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Hausfrauen sind dabei, Lehrer, auch Pfarrer, sie kommen aus ganz unterschiedlichen Religionsgemeinschaften. Ein Dach haben wir in der Werkstatt der Kulturen gefunden. Am Anfang des Jahres suchen wir ein Thema aus, im letzten Jahr war das erwachsen werden. Dabei haben wir gefragt, wie die Religionsgemeinschaften diesen Prozess unterstützen oder ihn erschweren. Wir haben bei unseren eigenen Biografien angefangen.

Was ist das Ergebnis dieser Diskussionen?

Wir zeichnen die Gespräche auf, bearbeiten sie und machen daraus – mit vielen Ergänzungen – Broschüren für den Unterricht. Und zwar nicht nur für den Religionsunterricht. Am Ende jedes Jahres machen wir dann eine Tagung für Lehrer. Inzwischen sind unsere Tagungen bekannt und gut besucht. Beziehen kann man die Broschüren über die Bundeszentrale für politische Bildung. das Interesse daran ist groß.

INTERVIEW: SABINE AM ORDE