ausgehen und rumstehen
: Aus dem Poesiealbum eines Asphaltcowboys

Vor dem Kino International stehen viele Leute, und alle wollen rein. Dass das nicht so leicht geht, wie sie denken, erkennen Spezialisten wie ich schon aus 100 Metern Entfernung an den großen Scheinwerfern, die auf den Eingang gerichtet sind. Mir ist auch klar, dass die rot-weißen Absperrbänder, die planlos kreuz und quer gespannt sind, wie ich beim Näherkommen kritisch bemerke, das Gleiche sagen wollen.

Vor den Türen stehen schwarz gekleidete Männer, mit Oberkörpern, welche die Nähte ihrer Jacken auseinander zu sprengen drohen. Sie haben die Hände säuberlich vor ihren Geschlechtsorganen gefaltet und bewegen sich nicht, nicht einmal ihre Augen.

Weil die Leute vor dem Kino genauso aussehen wie diese Männer, weiß ich, dass das hier nicht meine Veranstaltung ist. Außerdem kann sie nicht wichtig sein, ich wüsste das und ich verdächtige alle Macher, dass sie das ganze Drumherum nur inszeniert haben, um ihre langweilige und teure Veranstaltung – so vermute ich zumindest – ganz nach vorne zu bringen. Ob es stimmt – ich werde es nie erfahren.

Ich setze meinen Weg, der mich eine ganze Weile die Karl-Marx-Allee entlangführt, unerbittlich fort. Ich kenne kein Pardon mit mir. Bis zu meinem Ziel sind es nur mehr zwei Kilometer und die U-Bahn verachte ich, seit ich dort auf einem Bildschirm gelesen habe, dass die Stimmbänder des zu dem Zeitpunkt noch lebenden Papstes zu schwach seien, um von ihm zum Schwingen gebracht zu werden. Erregt über diesen Gedanken betrete ich einen kleinen Club in der Rigaer Straße und nehme düster die gute Laune der dort versammelten Brut zur Kenntnis. Das Konzert hat schon vor langer Zeit begonnen. Ich stoße mich kraftvoll durch die Menge, bis ich in der ersten Reihe stehe.

Auf der Bühne drängt sich eine fünfköpfige Frauenband. Auch hier: Lebenslust. Pure Energie. Mein Gehirn spielt mir einen Streich und quält mich mit Erinnerungen aus der Vergangenheit. Ich vermag nicht herauszufinden, ob es die ferne oder die nahe Vergangenheit meint, und nur mit knapper Not gelingt es mir, die nötige Konzentration aufzubieten, um dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Wortfetzen dringen an mein Ohr, aber nur einer Auslese gelingt der Weg ins Innere. „Die Depression ist okay, aber nach der Depression – das ist auch okay. Man muss beide Seiten sehen.“ Auch ich kombiniere jetzt, dass sich die ironische Ansage der Sängerin auf den Song „Entschuldigung, dass ich geboren wurde“ bezieht, den ihre gesamte Ladycrew gerade herausgeschrien hatte. „Crew“, das ist es – mein Gehirn arbeitet jetzt wieder auf Hochtouren. Die nahe Vergangenheit war es, die mir so zu schaffen gemacht hat. Dort auf der Bühne steht die Besatzung der „Tiefseetaucher“, ein aufmerksamer Teil in mir hatte es sofort bemerkt. Links die Gitarristin: Ned Plimpton wie aus dem Gesicht geschnitten, in engem Kontakt mit der Frontfrau: Zissou. Die Bassistin mit der Mütze, ich hätte es gleich sehen müssen: Klaus. Gitarristin Nr. 2: Schön und langhaarig wie Anjelica Houston. Bleibt die Schlagzeugerin, sicher und professionell, aber im Gegensatz zu allen anderen im Verborgenen arbeitend. Glasklar liegt die Lösung vor mir: Sie ist der unbezahlte Praktikant, der angeschossen wurde und sein Praktikum nicht anerkannt bekommen sollte, als er das Schiff verlassen wollte.

Befriedigt über meinen Scharfsinn belohne ich mich mit einem Bier und verweigere später die Rücknahme der 10 Cent Pfand. Es wird Zeit für den Weg zurück. Mich beschäftigen die wirklich dringenden Fragen: Wer wird den Dritte-Welt-Ländern im Kampf gegen Aids demnächst den Gebrauch von Kondomen untersagen? Wer wird auf all die Gefahren aufmerksam machen, welche die Normalsterblichen nicht sehen können?

Die Lösung will mir nicht einfallen. Meine Füße schmerzen, aber ich kenne das und richte die Aufmerksamkeit nach außen. Dort flattert grell beleuchtet ein Transparent, das eine mehrstöckige Häuserfassade bedeckt. „Der Kanzler kommt“, entziffere ich die großen Lettern. „Ist er nicht schon die ganze Zeit da?“, vermeldet eine Stimme in mir, aber ich gewähre ihr keinen Einlass, denn ich weiß, dass es sich hier nicht um die Realität handelt, sondern um eine Fernsehserie. Trotz meiner schmerzenden Füße verziehe ich den Mund zu einem Grinsen, denn eins ist sicher: Ich werde mir diese Serie nicht ansehen. KATHARINA HEIN