„Ich lebe im richtigen Körper“

Anke Streifeneder

„In Berlin kann man recht anonym leben, es gibt spezialisierte Ärzte, Therapeuten, Anlaufstellen und Informationen. Aber auch hier passieren täglich Pöbeleien und Anfeindungen auf den Straßen“„Wir können viel von Frauen lernen. Gerade die Vielfalt an Formen und Farben bei Kleidung ist für einen Mann kaum nachvollziehbar. Als Mann war das Leben einfach, aber mausgrau, als Frau empfinde ich das wie im Paradies“

Die Frau mit den grünen Augen und hellen gezupften Augenbrauen war mal ein Mann. Anke Streifeneder, intersexuell: Geboren mit beiden Geschlechstmerkmalen, entfernte man ihr kurz nach der Geburt alles Weibliche. Und verschwieg es. Doch Frank, wie Anke früher hieß, spürte, dass er im falschen Körper aufwuchs. Vor drei Jahren entschied er, sein Frausein auch in der Öffentlichkeit auszuleben. Anke Streifeneder berät heute als Vorsitzende der Landesgeschäftsstelle Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Trans- und Intersexualität Betroffene.

INTERVIEW IWONA KALLOK
, JULIANE GRINGER
, PATRICK BAUER

taz: Frau Streifeneder, was ist der Unterschied zwischen Mann und Frau?

Anke Streifeneder: Stellen Sie sich eine riesengroße Staumauer vor. Ist sie geschlossen, fließt nur ein kleines Flüsschen, ein Rinnsal hinunter. Das ist das, was ein Mann empfinden kann. Öffnet man sie aber, dann stürzen Wassermassen in ein Staubecken, so groß wie der Bodensee. So kann frau empfinden.

Seit drei Jahren engagieren Sie sich bei der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität.

Ich leite dort eine Selbsthilfegruppe und bin am Telefon rund um die Uhr für Beratungen zu erreichen. Jährlich führe ich über 1.000 persönliche und telefonische Gespräche. Die meisten Betroffenen wissen, was sie möchten, aber nicht, wie sie es erreichen können. In der Selbsthilfegruppe treffen wir uns alle zwei Wochen, persönliche Erfahrungen helfen am besten. Anschließend gehen wir gemeinsam aus. Denn allein trauen sich die wenigsten in die Öffentlichkeit.

Wie viele Betroffene leben in Berlin?

Es müssen etwa 50.000 sein. Studien belegen, dass 0,5 Prozent der Bevölkerung transidentisch geprägt sind und 1,1 Prozent intersexuell. Es kann jedem „passieren“, unabhängig von Bildung oder Schicht. Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen, Beamten. Sie leiden unter der öffentlichen Diskriminierung und verursachen der Solidargemeinschaft nicht unerhebliche Kosten. Vor allem, wenn sie Ihre Empfindungen verdrängen und deswegen vielleicht jahrelang mit psychosomatischen Beschwerden behandelt werden müssen. Wir sind weder psychisch krank noch Menschen zweiter Klasse, werden aber häufig so behandelt. Die Gesellschaft muss sich mit uns auseinander setzen.

Das tut sie bisher nicht?

Soziale Ausgrenzung ist nach wie vor der Preis für unsere Selbsterkenntnis. Den Job etwa sind die meisten nach ihrem Coming-out los. Von den 271 Trans- und Intersexuellen, die im vergangenen Jahr in unserer Selbsthilfegruppe waren, waren 80 Prozent arbeitslos.

Gerade in Berlin würde man ein toleranteres Umfeld erwarten.

Hier kann man recht anonym leben, es gibt spezialisierte Ärzte, Therapeuten, Anlaufstellen und Informationen. Deswegen ziehen viele Betroffene her. Aber auch in Berlin passieren täglich Pöbeleien und Anfeindungen auf den Straßen.

Wie reagieren Sie darauf?

Zurückmeckern. Ich weiß, dass ich auffalle. Es gibt halt wenige Männer, die die Voraussetzungen dafür mitbringen, auf den ersten Blick als Frau durchzugehen.

Wann haben Sie gespürt, dass Sie im falschen Körper leben?

Ich lebe im richtigen Körper, nur entsprach das äußere Erscheinungsbild nicht meinen Empfindungen. Solange ich mich erinnern kann, habe ich mich weiblich gefühlt – also schon so mit vier, fünf Jahren. Ich habe eine jüngere Schwester, und als Kind konnte ich auch mit Puppen spielen, ohne dass es aufgefallen ist. Ab und zu habe ich mir auch Sachen aus ihrem Schrank genommen und sie vor dem Spiegel angezogen.

Haben Ihre Eltern bemerkt, dass der Sohn lieber eine Tochter wäre?

Meine Mutter hat mich mal in Rock und Bluse erwischt, da war ich 13. Sie hat mich gefragt: Willst du ein Mädchen sein? Ich habe nicht geantwortet. Was sollte ich sagen? Ich hätte damals alles dafür gegeben, habe an nichts anderes mehr gedacht. Aber es versteht niemand. Vom Vater gab’s nur was auf die Ohren. Heute lebe ich es, leider 40 Jahre zu spät.

Sie haben lange zwei verschiedene Leben geführt?

Ja, ich bin dem gerecht geworden, was von einem Jungen erwartet wurde. Ich bin nie aus der Rolle gefallen, denn ich wollte ja niemanden enttäuschen.

Und dann kommt man in die Pubertät und soll die ersten Mädchen mit nach Hause bringen …

… das habe ich auch getan. Allerdings waren meine Gefühle eher Bewunderung und nicht selten Neid für das, was ich nicht sein konnte. Ich habe Frauen als begehrenswert empfunden, aber nie als Lustobjekt. In der Schule hätte ich mich lächerlich gemacht, wenn ich dort als Mädchen aufgetaucht wäre.

Sie haben als Junge funktioniert?

Ja sicher. Für Mädchen war ich nicht uninteressant. Aber wenn ich mit einer Frau zusammen war, dann wollte ich ihr immer nur ihre Wünsche erfüllen. Ich konnte mich ja auch nie gegen dieses Teil zwischen meinen Beinen wehren, das nun mal da ist.

Sie haben auf dem Bau gelernt und jahrelang geackert. Ein Job für echte Kerle.

Mein Vater kam vom Bau, also habe ich das auch gelernt. Da bekam ich als Mann auch Bestätigung und konnte weiter den Schein aufrecht erhalten.

Hat es Sie angeekelt, ein Mann sein zu müssen?

Ich habe nicht dagegen gekämpft, weil ich meine Realität nicht ändern konnte und es bei meinen Großeltern oder nachts ausleben konnte. Sicher gibt es Betroffene, die gerade mit dem eigenen Körper massive Probleme haben. Die sich nur im Dunkeln ausziehen oder nur mit Handschuhen waschen. Ich habe meine körperliche Existenz akzeptiert, weil ich damals keine Möglichkeit sah, zu meinen Gefühlen zu stehen.

Trotzdem hat es Sie krank gemacht, dass Sie sich verstecken mussten.

Für die Zwietracht zwischen Körper und Seele hab ich einen hohen Preis gezahlt. Ich hatte immer starke Kopfschmerzen und andere Beschwerden, selbst hohe Dosen Morphium halfen nicht. Die Ärzte sind an mir verzweifelt. Ich musste immer wieder in die Klinik, arbeiten konnte ich nicht mehr. Selbst wenn ich nur Rasen gemäht habe, war ich danach völlig schlapp. Mein Leben war kaputt. Freunde, die meinen Leidensweg kannten, meinten dann, das könne doch nur psychisch bedingt sein.

Damit hatten Sie offensichtlich Recht. Als Sie vor drei Jahren eine Hormontherapie begonnen haben, ging es Ihnen plötzlich viel besser.

Vier Milligramm Östrogen pro Tag sorgten für 1.000 Prozent mehr Lebensqualität. Mit der Therapie begonnen habe ich, nachdem ich für ein paar Wochen allein zu Hause war. Meine Mutter, mit der ich zusammen im selben Haus lebe, war im Urlaub. In dieser Zeit konnte ich mein Frausein richtig ausleben und habe gemerkt, wie gut es mir damit geht – und dann wollte ich mich nicht mehr verstecken.

Wären Sie nicht so krank geworden, würden Sie dann heute immer noch als Mann leben?

Das glaube ich nicht. Früher oder später hätte ich diesen Schritt gemacht. Mir fehlte nicht unbedingt der Mut, aber vielleicht brauchte ich diesen Druck, zu wissen, dass eine Hormontherapie die letzte Chance auf ein lebenswertes Leben ist. Frauen sind sich ihrer Gefühle früher bewusst, während Männer in dieser männlich dominierten Gesellschaft oft erst spät ihre wahre Persönlichkeit offenbaren können. Meist aus Rücksicht auf die Familie oder weil sie den Arbeitsplatz nicht riskieren wollen.

Wie hat Ihre Mutter reagiert, als aus ihrem Sohn Anke wurde?

Es fiel ihr nicht leicht, aber sie hat akzeptiert, dass ich so leben will, und auch gemerkt, dass es mir wesentlich besser geht. Ich war ausgeglichener, zufriedener, zugänglicher. Wenn Nachbarn anfangs fragten, ob sie eine neue Untermieterin habe, sagte sie: „Ich weiß von nichts!“ Heute bemüht sie sich auch in der Öffentlichkeit, nur manchmal rutscht ihr noch das „Er“ raus. Aber ich bin Ihr Kind, und damit ist alles gesagt.

Was hat sich durch die Hormonbehandlung geändert?

Mit den Hormonen macht man die Pubertät noch mal im Turbogang durch. Auch mein Körper hat sich verändert, nach sechs Wochen kamen die ersten Veränderungen. Der Po wurde runder, die Oberschenkel dicker, die Haut weicher und die Brust begann zu wachsen.

Waren Sie denn zufrieden mit den Ergebnissen?

Es war klar, ganz perfekt kann das nicht werden, dafür hatte ich nicht den Körperbau. Es ist auch schwierig, wenn man schon älter ist. Trotzdem versuche ich ab und zu, dem Klischee, das Männer von Frauen haben, zu entsprechen. Aber meine tiefe Stimme macht mir immer einen Strich durch die Rechnung.

Typisch Frau: Sie sind jetzt also zickig, telefonieren ständig und bei kitschigen Filmen müssen Sie weinen.

Klar, das ist das Vorrecht jeder Frau. Meine Gefühle sind viel intensiver geworden, meine Wahrnehmung hat sich verändert. Ich habe zum Beispiel einen Film gesehen, in dem sich ein Pärchen näher gekommen ist – da ging mir ein Schauer durch den Körper. Die ersten Male lag das zwischen Begeisterung und Horrortrip. So, als ob du dein Leben lang zu Fuß unterwegs warst und plötzlich mit dem Jet durch die Gegend rast.

Führen Sie eine Beziehung, haben Sie einen Freund?

Ich hab zu meinen Sportwaffen eine Beziehung, zu meinem Auto und ich mag auch meine Amateurfunkantennen. Und sonst: Wenn ich der Richtigen begegne, warum nicht? An meinen Empfindungen für Frauen ändert auch eine Hormonbehandlung nichts. Männer sind tabu, Frauen okay.

Gab es Dinge, die Sie als Frau auch erlernen mussten?

Höchstens, wo bei Strumpfhosen vorne und hinten ist. Natürlich mit Make-up umzugehen, sich seiner Körpersprache und Wirkung auf Männer bewusst zu werden. Aber Mimik und Gestik, das kommt mit der Zeit von allein. Wir können allerdings viel von Frauen lernen. Gerade die Vielfalt an Formen und Farben bei Kleidung ist für einen Mann kaum nachvollziehbar. Als Mann war das Leben einfach, aber mausgrau, als Frau empfinde ich das wie im Paradies.

Was hält Sie bisher von einer Operation zur Geschlechtsangleichung ab?

Die Krankenkasse. Seit mittlerweile 18 Monaten liegt der Antrag beim Sozialgericht. Ich hatte Anfang März einen Termin mit der Richterin. Da wird es bald vorangehen.

Wer macht noch Probleme?

Behörden und Ämter. Lange Verfahrenswege oder nicht nachvollziehbare Bürokratie belasten die soziale Integration und verhindern sie nicht selten. Das fängt bei der Kontoführung und EC-Karten an und geht bis zu Anschreiben, die nicht meiner Sozialisierung als Frau entsprechen, also falsche Anrede oder falscher Vorname. Bei einer Fahrzeugkontrolle hieß es mal: Wir möchten Ihren Führerschein sehen, nicht den Ihres Mannes. Wenn ich mir erst Gerichtsurteil, gynäkologisches Gutachten und Personalausweis umhängen muss, um als Frau wahrgenommen zu werden, dann frage ich mich, wer hier krank ist.

Frau Streifeneder, sind Sie glücklich?

Jeder stellt die Weichen für seine Zukunft in der Gegenwart. Mein Leben habe ich selbst bestimmt und Unbeschreibliches erlebt. Für mich ist es viel besser, als ich es mir in kühnsten Träumen hätte vorstellen können.