Angriff der Milchgesichter

Der TSV 1860 München kann morgen mit einem Sieg gegen den 1. FC Köln weiter Kursauf die Bundesliga nehmen. Dabei stand der Club noch vor wenigen Monaten am Abgrund

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Es sind diese beiden Elfmeter, mit denen man die erst grausame und nun wundersame Geschichte des TSV 1860 München am besten beschreiben kann: Den ersten davon pfiff Schiedsrichter Stefan Trautmann am 15. Mai 2004 in der 89. Minute des Heimspiels gegen Hertha BSC. Es stand 1:1, und nur ein Sieg hätte den Sechzigern alle Chancen auf den Verbleib in der Bundesliga gesichert. Der gerade eingewechselte Stürmer Francis Kioyo schnappte sich den Ball – und donnerte ihn weit links am Tor vorbei. Dieser Fehlschuss markierte zugleich den Tiefpunkt, an dem die „Löwen“ nach Jahren des zunehmenden Verfalls angelangt waren.

Nachdem der Club unter Trainer Werner Lorant im Spätsommer 2000 an die Tür zur Champions League geklopft hatte (und von Leeds United abgewiesen wurde), war es stetig bergab gegangen. Die zunehmend planlos zusammengekaufte Mannschaft agierte so seelen- wie leidenschaftslos, der vom selbstherrlich agierenden Präsidenten Karl-Heinz Wildmoser verfügte Umzug vom heimischen Acker an der Grünwalder Straße ins ungeliebte und viel zu große Olympiastadion hatte den Fans die Heimat geraubt, die Träume, mit dem FC Bayern konkurrieren zu können, erwiesen sich als Größenwahn.

Im Frühjahr 2004 brach das von den eigenen Anhängern als „FC Bayern light“ verspottete Konstrukt zusammen. Präsident Wildmoser wanderte samt Sohn Karl-Heinz jr. wegen des Verdachts auf Schmiergeldzahlungen ins Gefängnis, Trainer Falko Götz wurde vom Interimspräsidium per Fernsehinterview entlassen, die Mannschaft stolperte kopflos in die zweite Liga. Doch selbst dort setzte sich die Talfahrt fort. Am 15. Spieltag verlor man 1:5 bei Alemannia Aachen und war nur noch vier Punkte von einem Abstiegsplatz entfernt. Auch wirtschaftlich sah es miserabel aus, der neue Trainer Rudi Bommer musste gehen.

Der zweite Elfmeter in dieser Geschichte war ziemlich umstritten. Schiedsrichter Michael Weiner gab ihn am 14. März 2005 trotzdem, er hatte ein Handspiel des Frankfurters Arie van Lent gesehen. Im Spiel zwischen 1860 und Eintracht Frankfurt ging es darum, wer die beste Ausgangsposition für das Rennen um den dritten Tabellenplatz und damit den Aufstieg in die Bundesliga ergattern konnte. Nach dem Elfmeterpfiff gab es Proteste und Gerangel auf dem Platz, Tobsuchtsanfälle vor der Frankfurter Trainerbank und Aufruhr auf den Rängen. Nur einer blieb cool: Der erst 21 Jahre alte defensive Mittelfeldspieler Matthias Lehmann nahm sich den Ball und schoss zum 2:1-Siegtreffer ein.

Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Lehmann die Verantwortung übernahm. Der Youngster ist so etwas wie das Symbol für die völlig überraschende Kehrtwende. Als einziges Profiteam in Deutschland haben die „Löwen“ 2005 noch kein Spiel verloren – und die letzten sieben Heimspiele in Folge gewonnen. Sie stehen auf dem dritten Platz, wenn sie morgen im Zweitliga-Spitzenspiel den 1. FC Köln schlagen, sind es nur noch vier Punkte auf Rang zwei.

Die wahre Sensation aber ist das (Milch-)Gesicht der Mannschaft: Im Tor agiert Timo Ochs (23) mit überragender Sicherheit, in der Abwehr überzeugen seit Wochen der offensive Linksverteidiger Marcel Schäfer (20) und der polnische U21-Nationalspieler Lukas Szukala. Vor ihnen füllt Mathias Lehmann die taktisch vielleicht anspruchsvollste Position des zentralen defensiven Mittelfeldspielers aus, noch weiter vorn dirigiert Daniel Baier (21) an der Seite des 20-jährigen Patrick Milchraum. Und selbst die erfahrenen Kräfte im Team wie Abwehrchef Rodrigo Costa und Stürmer Paul Agostino haben die 30 noch nicht erreicht.

Doch das jüngste Team der zweiten Liga setzt keinesfalls auf ungestümen Hurrafußball – ganz im Gegenteil fallen gerade die Nachwuchskräfte durch eine bestens organisierte Defensive, verblüffende Cleverness, Zweikampfhärte und eine taktische Abgeklärtheit auf, die man von diesen Bübchen nie und nimmer erwartet hätte. Soviel Begeisterung hat zuletzt jene Elf ausgelöst, die 1994 in die Bundesliga aufstieg.

Tatsächlich hat es sich als Glücksfall erwiesen, dass vor der Saison schlicht kein Geld mehr da war, um wie bisher abgehalfterte, aber erfahrene Spieler aus anderen Vereinen einzukaufen – und dass der ewige, völlig farblos wirkende Co-Trainer Rainer Maurer im Winter eher zufällig auf den Chefposten gelangte: Im Gegensatz zu seinen Vorgängern wusste er über die Talente aus dem eigenen Nachwuchs bestens Bescheid und traute sich, ihnen Verantwortung zu übertragen. Die noch von Rudi Bommer als Anführer angeworbenen Routiniers Pflipsen und Komljenovic landeten dagegen mangels Einsatz und Schnelligkeit auf der Bank. Dort, oder auf der Tribüne, werden sie auch am Sonntag sitzen, wenn 1860 München im besten Falle sowohl den achten Heimsieg in Folge als auch vor vermutlich 40.000 Zuschauern den Abschied aus dem ungeliebten Olympiastadion feiern kann. Die restlichen Heimspiel will der Klub an der Grünwalder Straße austragen. Zurück in die Zukunft sozusagen.