Fremde Vögel

STARKE FRAUEN Bisher war Herbert List nur als Fotograf ein Star. Jetzt zeigt ihn eine Ausstellung im Schwulen Museum als Zeichner

In seinem Werk scheint die Zeichnung als eine Art Katalysator zu funktionieren

VON ACHIM DRUCKS

Eine gefesselte Frau wird von Krähen attackiert, Blut rinnt über ihre nackte Haut. In der eindringlichen, 1941 in Athen entstandenen Zeichnung „Feindliche Vögel“ reflektiert Herbert List seine aussichtslos erscheinende Lage: Mit Luftangriffen und Bombardements hat sich der Zweite Weltkrieg bis nach Griechenland ausgedehnt. Das wird ihn bald dazu zwingen, nach Deutschland zurückzukehren.

Fünf Jahre zuvor hatte er seine Heimatstadt Hamburg wegen der zunehmenden Repressionen gegen Homosexuelle überstürzt verlassen. Mit diesem Schritt beendet er auch seine bürgerliche Karriere: der Leiter einer Kaffee-Importfirma macht seine eigentliche Passion zum Beruf und arbeitet nur noch als Fotograf. Er geht nach London, Paris, schließlich nach Griechenland. In dieser Zeit perfektioniert List seinen Stil: Auf seinen Schwarzweißaufnahmen mischt sich kühler Klassizismus mit surrealen Elementen. Neben diesen „metaphysischen“ Fotografien entstehen zahlreiche Bilder junger Männer im harten Licht der mediterranen Sonne, die – als sie in den Achtzigernjahren bekannt wurden – auch US-Fotografen wie Bruce Weber und Herb Ritts inspirierten.

Eine kleine Auswahl von Lists Fotoarbeiten ist jetzt im Schwulen Museum zu sehen. Im Zentrum der Ausstellung „Frauen und Jungs“ stehen allerdings seine Zeichnungen, die hier erstmals gezeigt werden. Sie sind eine echte Überraschung. Denn im Gegensatz zu den Fotografien dominieren hier ganz eindeutig die Frauen. Keine Jungen in Sicht, die sich dekorativ an antike Monumente schmiegen. Aber auch sportive Society-Ladys wie die Marquesa Dusmet, die List 1932 auf Capri ablichtete, sucht man vergebens. Statt der Neuen Frau der Weimarer Jahre skizziert er vor allem üppige, manchmal fast matronenhaft wirkende Damen. Mehr oder weniger nackt räkeln sie sich auf Betten, am Strand oder auch an der Bar.

Während die Fotografien dieser Jahre oft eine kühle, perfekte Eleganz auszeichnet, ähneln Lists Zeichnungen häufig Karikaturen: Einflüsse von Picasso oder Matisse mischen sich mit Otto Dix. Zwar hatte der 1903 geborene Künstler schon als Schüler viel gezeichnet, sich dann aber ganz auf die Arbeit mit der Kamera konzentriert. Doch in Athen ist das Filmmaterial knapp, und auch die Freundschaft mit den Malern Yannis Tsarouchis und Nicolas Ghika – zwei Protagonisten der griechischen Moderne, die er regelmäßig in ihren Ateliers besucht – veranlasst den Autodidakten, erneut mit dem Zeichnen anzufangen.

Auf keinem der rund 100 gezeigten Blätter wird das Land der Griechen mit der Seele gesucht. Stattdessen entwirft List auf vielen seiner Zeichnungen und Aquarellen eine sich selbst genügende, erotisch aufgeladene Welt des Weiblichen, zu der Männer keinen Zutritt haben. Und so offensiv wie die junge Frau, die ihr altmodisches Kostüm geöffnet hat, um dem Betrachter mit maliziösem Lächeln Busen und Scham zu präsentieren, erscheint keiner seiner gezeichneten Männer. Die wirken meist in sich gekehrt und passiv.

Stilistisch orientiert sich List bei seinen Männerdarstellungen an Cocteau, den er 1936 in Paris kennengelernt hatte. Die beiden Künstler wurden Freunde, und der Franzose widmete List 1944 eine ebenso reduzierte wie dekorative Zeichnung eines Satyrs. Im Schwulen Museum hängt sie neben einer Fotografie von List, auf der er Cocteau vor einem ganz ähnlichen Motiv porträtiert. Auch das macht diese Ausstellung so interessant – Lists Zeichnungen und Fotos korrespondieren, trotz aller stilistischen Unterschiede, nicht nur untereinander. Sie werden zusätzlich durch Arbeiten von Referenzkünstlern ergänzt. Dadurch gibt die Schau Einblicke in ein Netzwerk schwuler Künstler, die es trotz des Naziterrors schafften, Werke zu realisieren, die sich dem offiziellen Männerbild des Dritten Reichs verweigern.

Auch List schafft es weiterzuarbeiten, obwohl er 1944 doch noch eingezogen wird. Als Verwalter eines Kartenlagers im norwegischen Bergen bleibt ihm genug Zeit zu zeichnen. Neben Paarbeziehungen thematisiert er jetzt vor allem das Spannungsverhältnis zwischen den Generationen – zwischen dominanten Müttern und Söhnen, Großmüttern und Enkeln. Nach Kriegsende lässt das Interesse am Zeichnen allerdings schnell wieder nach. Wahrscheinlich auch deswegen, weil er mit der Kamera ganz einfach besser ist als mit dem Stift.

In seinem Werk scheint die Zeichnung als eine Art Katalysator zu funktionieren. Denn mit diesem Medium entdeckt er den Reiz des Imperfekten. In den Fünfzigern beginnt sich der Stil seiner Fotos deutlich zu ändern, und Lists hermetische Inszenierungen werden von einer spontanen, lebendigeren Street Photography abgelöst.

■ „Frauen und Jungs. Die Zeichnungen von Herbert List 1940 bis 1946“, Schwules Museum, Mehringdamm 61, tägl. außer Di. 14–18, Sa. bis 19 Uhr, bis 12. 10.