berliner szenen Ein denkwürdiges Fest

Welch Werteverfall

Heute ist Jubiläum. Vor zehn Jahren veranstaltete mein Freund C. eine legendäre Party unter dem Motto „Dekadenz und Wertezerfall“. C.s Partys waren stadtbekannt und uferten immer in wüste Gelage aus. Das ließ einiges erwarten, vor allem, weil diesmal sein schlimmer großer Bruder an den Vorbereitungen beteiligt war. Als ich eintraf, gab C. gerade ein paar Erklärungen zum Buffet ab. „Das hier ist echter Kaviar, hat 400 Mark gekostet. Und das hier sind Würstchen in Götterspeise.“ Neben mir stöhnte ein Mädchen auf. Kreideweiß im Gesicht hielt sie sich die Hand vor den Mund und rannte nach draußen. Der Grund war eine frisch gebackene Ratte, die so auffällig auf dem Buffet thronte, dass ich sie übersehen hatte. Ihr langer Schwanz war kunstvoll aufgerichtet worden. C.s Augen glänzten. „Die hat mein Bruder selber geschlachtet. Schmeckt bestimmt gut, wir haben sie in Buttermilch schwimmen lassen und mit Honig bestrichen.“

Wie erwartet, wurde die Party lang und wild. Das Bier ging aus. „Macht nichts“, sagte jemand, „der Bruder mixt Cocktails für uns.“ Ich reihte mich in die Schlange vor der Küchentür ein. C.s Bruder reichte mir einen Drink im Plastikbecher. Das Getränk war seltsam grünlich, schmeckte aber fantastisch. „Wie hat er das bloß gemacht“, fragte ich C. „Du trinkst Kräutershampoo“, sagte er.

Ich fühlte mich feige, weil ich die Ratte nicht probiert hatte. „Das ist wie mit dem Glücksrad“, erklärte mir der Bruder, „manche hängen unten dran, andere sitzen oben drauf.“ Ich wollte nicht unten dran hängen. Gemeinsam mit C. aß ich ein Stück Ratte, er von der einen Seite, ich von der anderen, bis unsere Münder sich trafen. Morgens trennte sich seine Freundin von ihm. KATHARINA HEIN