Missionare des modernen Fußballs

Auf die Lit.Cologne lud Fußballjournalist und Buchautor Christoph Biermann die drei Fußballtrainer Joachim Löw, Uwe Rapolder und Ralf Rangnick. Es wurde eine fast literarische Aufarbeitung von moderner Taktik und Spieltheorie

Fußball ist Literatur, das wissen wir längst. Auf dem Rasen lesen wir historische Dramen, monumentale Heldenepen, betörende Lyrik, niveaulosen Schund oder nervenaufreibende Krimis – nur wie diese enorme literarische Vielfalt zu interpretieren sei, ist bis heute selbst Experten eine Frage der Emotion. Das Literaturfestival Lit.Cologne hatte eine Veranstaltung im Programm, in der sich der anspruchsvolle Fußballrezipient mit dem erforderlichen theoretischen Handwerkszeug ausstatten konnte.

Hörsaal 1 der Deutschen Sporthochschule Köln. Ein Seminar dessen Titel auch so hätte lauten können: „Grundtechniken zur Interpretation des modernen Fußballsports und ihre Anwendung auf verschiedene Entwicklungsstadien des Spiels.“ Ziel: Das Spiel lesen. Der Abend, zu dem der Fußballjournalist und Buchautor Christoph Biermann die drei Fußballtrainer Joachim Löw, Uwe Rapolder und Ralf Rangnick eingeladen hatte, war tatsächlich so überschrieben und der Gastgeber musste gleich zu Beginn einräumen, dass es sich eigentlich um einen „Etikettenschwindel“ handle, denn aus Büchern würde lediglich zur Auflockerung gelesen, auf dem grünen Rechteck und auf der Taktiktafel dafür umso intensiver.

Der Platz ein Blatt Papier also. Ein Blatt indes, das gegenwärtig neben der bekannten Prosa auch mit allerlei Rasentheorie oder gar mit doppelpassender Philosophie beschrieben wird. Der Fußball scheint vom Zentrum unserer Unterhaltungsgewohnheiten im erhabenen Reich der deutschen Hochkultur angekommen zu sein. „Ich vermittle meine Philosophie in die Köpfe der Spieler und will sie dann auf dem Rasen sehen“, sagte Rapolder irgendwann. Der Bielefelder Trainer schreibt seine Ideen in ein Zeichensystem, die Aktionen der Spieler sind die Buchstaben. Die Rückübersetzung ins Verbale macht gar die Erfindung einer neuen Sprache erforderlich. Referenzstürmer gibt es mittlerweile, das Spiel gegen den Ball und den Dreiklang pressure, cover, balance. Da ist vom Abkippen die Rede oder vom Pressingopfer. Hyroglyphen für Laien, hoch spannender Stoff für die Theoretiker – das Publikum hört äußerst konzentriert zu.

Insgesamt ist die Lehre des modernen Fußballs durchaus übersichtlich, die Entwicklung und der Entwicklungsstand auf dem sich das moderne Spiel gegenwärtig bewegt, lässt sich recht einfach zusammenfassen: Es gehe darum, „nach eigenem Ballgewinn möglichst schnell zum Torabschluss zu kommen“, erklärt Bundestrainer Löw. Dauerte das zu lang, sehe man sich meist unüberwindbar formierter Abwehrreihen gegenüber. Die Herausforderung sei, Mittel zu entwickeln, diese Geschwindigkeit zur Entfaltung bringen.

„Je höher der Grad der Organisation, desto höher ist die Effizienz“, sagt Rapolder, der wie die drei anderen Podiumsteilnehmer ein Missionar des zeitgenössischen Fußballs ist. Die drei Trainer predigen jene moderne, schnelle Spielweise, die unsere Nationalmannschaft praktizieren soll und die für sie und die Bundesliga doch relativ neu ist.

Und der Schriftsteller Biermann ist gewissermaßen der erste Prediger einer ganzen Bewegung, die immer mächtiger werdend schon seit gut einem Jahrzehnt diese Botschaft verkündet: Die Rezeption von modernem Fußball ist neben bloßer, gerne auch bierseliger Unterhaltung, eine äußerst herausfordernde und komplexe Interpretationsaufgabe. Deutschland hat also enormen Nachholbedarf, sowohl an taktischer Innovation als auch an Diskussionskultur in diesem Sektor des Fußballsports.

Diese aufklärerische Arbeit ist indes nicht nur intellektueller Spaß, sie dient zugleich der Verschönerung des Spiels. Denn wer den Fußball lesen kann, der verzichtet eher auf Hässlichkeiten wie blinde Wut, Neid auf Spielergehälter und überzogene Abneigungen gegen erfolglose Trainer. Im Gegensatz zu britischen, holländischen, spanischen oder italienischen Medien gibt es in Deutschlands Öffentlichkeit erschreckend wenig Orte für fundierte Diskurse über taktische Inhalte. „Die Not muss erst enorm groß sein, damit sich etwas ändert, das ist ein typisch deutsches Phänomen“, meint Rangnick und dieser Punkt sei mit der anhaltenden Unterlegenheit der Nationalmannschaft im vergangenen Sommer erreicht gewesen.

Die besten Momente gab es während der kurzen eingestreuten Vorträge mit Texten von Fußballrentner Rudi Gutendorf, aus einem Feuilleton-Artikel Rapolders über den AC Mailand und aus einem Dramolett von Theaterautor Moritz Rinke. Und natürlich als Jogi Löw fast selbstvergessen und abgetaucht in eine eingespielte Szene auf der Leinwand murmelte: „Doppelpass, Pass, gut gespielt.“ Das waren Augenblicke der Primärliteratur. Eine aufregende Erzählung oder ein tolles Fußballspiel sind eben doch viel fesselnder als ihre Theorie. DANIEL THEWELEIT