Überraschungsparty endet vor Gericht

PROZESS Jugendliche werfen 30-Jährigen durch ein U-Bahn-Fenster. Vorher schluckten sie Tilidin

Saal 817 des Landgerichts. Mit gesenkten Köpfen sitzen drei Männer auf der Bank und hören die Anklage: Beleidigung durch den Spruch „Scheißtürke“, gemeinschaftliche Körperverletzung, Sachbeschädigung und Waffenbesitz. Nach der Staatsanwältin spricht Tiago (22); er hatte am 25. Januar 2009 zuerst zugeschlagen. Er entschuldigt sich bei Baris (30) und versucht, die Tat zu erklären: „Es waren Drogen und Alkohol im Spiel“. Seit fünf Monaten sitzen er und die mutmaßlichen Mittäter, Murat (21) und Fadi (19), in Moabit in U-Haft. Am heutigen Freitag wird das Urteil für die beiden Jüngeren erwartet. Bei den beiden „Heranwachsenden“ ist offen, ob sie noch unter das mildere Jugendstrafrecht fallen.

„Schön, amüsant und gut gelaunt“, beschreibt Fadi die Stimmung in der Geburtstagsnacht. Der Jüngste der Angeklagten wird von seinen Freunden überrascht. Gemeinsam sitzen sie in einer Shisha-Bar in der Schönhauser Allee und trinken Wodka Red Bull – literweise aus Eimern. Zu dritt hätten sie sich einen Eimer geteilt, am Ende sind es vermutlich fünf. Auf der Toilette nehmen Murat und Tiago das starke, verschreibungspflichtige Schmerzmittel Tilidin, das zudem aufputschend wirkt und vor allem in der Hooligan-Szene als Droge verwandt wird. Die Richterin will wissen, wie der Zustand der drei war: „Als wir die Bar gegen 2 Uhr verließen, waren wir eigentlich ganz friedlich“, so die Antwort. Das ändert sich schnell.

In der U-Bahn wird die Stimmung aggressiv. „Scheißportugiese“ und „Scheißtürke“, fliegt es durch die Sitzreihen. Baris sitzt mittendrin und fühlt sich provoziert: „Das war in meine Richtung gesprochen, dabei sah einer selber aus wie ein Türke“, sagt er vor Gericht. Der Angriff sei nicht rassistisch gemeint gewesen, sondern Angeberei unter Freunden. Zunächst beruhigt sich die Situation, dann aber springt Tiago auf Baris und schlägt mit der Faust auf dessen Hinterkopf. Es folgen Tritte gegen Gesicht, Kinn und Hals. Als die U-Bahn am Hansaplatz einfährt, drückt Murat ihn gegen das Fenster, die Scheibe fällt auf den Bahnsteig, Baris hinterher. Draußen geht die Prügelei weiter, wie das BVG-Video zeigt.

„Alles ist eskaliert, wie im Film“, beschreibt Murat das Geschehen. Zwar sei er früher öfter betrunken gewesen, der plötzliche und anhaltende Gewaltausbruch lässt sich erst mit der Einnahme des Tilidins erklären. Murat nimmt es schon länger, aber seit sechs Monaten spritzt er es sich regelmäßig. Danach sei ihm „wohler und freier“ – nach dem Gefühl wird er schnell süchtig. Dass er abhängig ist, stellt er im Gefängnis fest: „Die erste Zeit war schwer, ich hatte Rücken- und Kopfschmerzen“.

Murat und Tiago sind keine Einzelfälle. Die Leiterin der Suchtberatung Confamilia, Claudia Kienzler, schätzte bereits vor einem Jahr die Droge Tilidin als verbreitetes Problem unter Muslimen ein. „Nicht um zu prügeln“, sondern um mit sozialer Benachteiligung und fehlender Perspektive zurechtzukommen. Jeder Dritte, der zu ihr in die Beratung komme, habe einen Migrationshintergrund. ANNE SIEGMUND