Die Nase der Achmatova

Seine Fotos kennt jeder, seinen Namen fast niemand: Die Hamburger Universitäts- und Staatsbibliothek erinnert an den russischen Fotografen Moisej Nappelbaum, der das erste offizielle Lenin-Porträt geschaffen hat. Seine hochbetagte Enkelin lebt in Hamburg und hat die Ausstellung initiiert

aus HamburgPetra Schellen

Die Vita von Moisej Nappelbaum: Das ist eine jener Geschichten, die man zart betasten muss. Die, zwischen 1869 und 1958 angesiedelt, Zeitgeschichte und persönliches Schicksal zugleich atmet. Und die etliche Paradoxien birgt, wie sie für die russische Geschichte typisch sind: Von einem wichtigen, aber kaum beachteten russisch-jüdischen Fotografen ist die Rede, der die russische Kulturszene der 20er Jahre fast komplett abgelichtet und das erste offizielle Lenin-Porträt geschaffen hat. Seine Fotos sind bis heute in fast jedem Buch über russische Kultur enthalten – oft allerdings ohne Hinweis auf den Fotografen.

In St. Petersburg wurde Moisej Nappelbaum, dem die Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek derzeit eine Ausstellung widmet, geboren. Als 14-Jähriger begann er sich für Fotografie zu interessieren – doch im vorrevolutionären St. Petersburg durften sich Juden nicht als freischaffende Künstler niederlassen; so arbeitete er zunächst illegal. Erst nach der Oktoberrevolution habe sich das geändert, erzählt Nappelbaums Enkelin Jekaterina Michailovna Carenkova, die seit 1992 in Hamburg lebt und die Ausstellung aus ihrem privaten Archiv bestückt hat. Ungezählt sind die Fotos von Literaten, Schauspielern, Malern, Komponisten und Politikern, die ihre Wohnung birgt. Die meisten Negative allerdings lagern im Staatsarchiv für Kino-Fotodokumentation in Krasnogorsk. Etliche Fotos hat das Puschkin-Haus in St. Petersburg gekauft. Die übrigen lagern im Rest der Welt.

Ein bescheidener Mensch sei ihr Großvater gewesen, erzählt die Ingenieurin Carenkova, eine elegante alte Dame, die sich sorgsam geschmückt und gekleidet hat und es genießt, in die Kamera zu lächeln. „Mein Großvater hat nie persönliche Vorteile aus seiner Arbeit gezogen, obwohl er durchaus die Möglichkeit gehabt hätte.“ Denn seine „Modelle“ kamen direkt zu ihm ins Haus: Anna Achmatova, Boris Pasternak, Michail Bulgakov, Vladimir Majakovskij, Sergej Prokofjev, Sergej Eisenstein und Vladimir Tatlin fanden sich in den Zwanzigern zu Nappelbaums „Literarischen Montagen“ in St. Petersburg ein. Markante Porträts entstanden dort im gläsern überdachten Fotoatelier, in das er sich mit seinen Kunden zurückzog. „Er sprach lange mit ihnen und liebte es, sie zu kostümieren“, erinnert sich Carenkova. „Und er brachte es fertig, die Frauen mit der Aufforderung nach Hause zu schicken, sie sollten in einem eleganteren Kleid wiederkommen. Und sie? Waren angesichts dieser erlesenen Aufmerksamkeit natürlich überzeugt, er wäre in sie verliebt!“

Die Welt als ästhetisch zu arrangierender Puppenladen? Vielleicht – aber nicht nur: „Mein Großvater, der seit 1925 in Moskau lebte, hat immer bedauert, dass seine Enkel nicht bei ihm wohnten. Er vermisste ihre Wärme.“ Ja, und auch verträumt sei Nappelbaum, der weder Achmatovas Hakennase noch Aleksandr Bloks stechenden Blick verschwieg, gewesen. Einen sehr privaten Eisenstein im Knitteranzug hat er fotografiert, Pasternak als hageren Décadent und Bulgakov mit zynisch aufgeworfenen Lippen abgebildet – der auf Authentizität bedachte Fotograf nahm keine Rücksicht auf Eitelkeiten. Über den Missmut eines Kunden, der auf dem Porträt sein rechtes Ohr vermisste, hat Nappelbaums Tochter Ida später ein Gedicht verfasst: „Es endet damit, dass mein Großvater dem Kunden geduldig erklärt, dass all dies besondere Kunstgriffe seien – worauf der Kunde zufrieden nach Hause zieht, weil er ein so gebildetes Gespräch geführt hat.“ Carenkova lächelt.

Ja, auch Stalin habe ihr Großvater einmal abgelichtet, sagt sie dann. „Ich habe es nie gesehen, und meine Mutter hat mir nie davon erzählt.“ Ein Irrtum, die Verhedderung eines Unpolitischen? Die Enkelin weiß es nicht. Sicher ist nur, dass Nappelbaum danach nie mehr Politiker fotografierte. Ein gezielter Rückzug? „Ich glaube, mein Großvater hatte eine gute Intuition.“ Carenkovas Gesten werden schmal. Ihre Mutter Ida ist 1951 „wegen antisowjetischer Aktivitäten“ verhaftet und für drei Jahre in ein Lager geschickt worden. Zynisches Detail nebenbei: An der Wand des Verhörzimmers hing ein Foto des Sicherheitschefs Feliks Dzerzinskij, das von Nappelbaum stammte. Brief auf Brief hat er für die Tochter geschrieben, hat etliche Male um Entlassung ersucht – vergebens. „Er muss sehr gelitten haben. Sein glücklichster Augenblick war der, in dem er meine Mutter lebend wiedersah“, sagt seine Enkelin.

Und für sie selbst? Wie sind die Jahre ohne die Mutter auszuhalten gewesen? „Es hätte schlimmer kommen können. Wir hätten – wie andere Angehörige derer, die verhaftet wurden – zwangsumgesiedelt werden können. Aber wir durften in St. Petersburg wohnen bleiben“, sagt sie mit müdem Pragmatismus. „Und wir konnten der Mutter immerhin Päckchen schicken und bekamen hin und wieder Briefe. Sie fragte uns immer nach den neuesten Büchern.“ Carenkova blinzelt eine Träne weg. Ihre Mutter ist 92 geworden. „Fünf Tage vor ihrem Tod hat sie noch ein Gedicht geschrieben.“ Wovon es handelt? Jekaterina Michailovna Carenkova hört nichts mehr. Sie ist ganz weit innen.

Die Ausstellung in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (Von-Melle-Park 3) ist noch bis zum 23. April zu sehen. Öffnungszeiten: Mo-Fr 9-21 Uhr, Sa 10-18 Uhr