kleine schillerkunde (1)
: Was Hochkultur hieß, ist Mainstream geworden: neue Klassikerbeflissenheit

Das kritische Rütteln an seinem Denkmal hat Schiller überstanden. Übersteht er auch die gegenwärtige Umarmung?

Da steht er. Lorbeerumkränzt, den starren Blick energisch nach vorn gerichtet (der Freiheit entgegen?), einen Umhang um die Schulter gehängt, den er mit der rechten Hand vorm Bauch zusammenrafft, während die Linke Manuskripte hält. Hell hebt sich der weiße Stein dieses Denkmals ab gegen die beigen Mauern von Schinkels Schauspielhaus, vor dessen großen Treppenaufgang es zentral platziert ist; hell wie ein zu sorgfältig polierter Zahn in einem ansonsten nachlässig gepflegten Gebiss.

Vier steinerne Frauen lungern zu Schillers Füßen: die Musen. Überhaupt folgen die Zeichen dieses Denkmals von Reinhold Begas, abgestellt auf dem Gendarmenmarkt zu Berlin, einem Code, den einst wahrscheinlich jeder Abgänger eines humanistischen Gymnasiums dechiffrieren konnte; irgendetwas mit ideal, antikisch und erhaben wird jedem dazu eingefallen sein. Heute hat das Ensemble etwas Posierendes. „Dem Dichterfuersten, die Stadt Berlin MDCCCLXIC“ steht auf der Rückseite. Es ist ein kalter Spätwinterdonnerstag in der Hauptstadt. Ein paar Touristen halten pflichtschuldig ihre Kameras in Richtung der starren Figur. Totes Gestein.

Aber! Gerade mal zwei Kilometer von hier, am Brandenburger Tor, steht der Neubau der Berliner Akademie der Künste. Modern, viel Glas, noch nicht einmal ganz fertig. Und dieser Akademie haben sie neulich die Bude eingerannt. Offizielle Eröffnung des Schillerjahres am vergangenen Wochenende. 24-Stunden-Marathonlesung. 5.000 Besucher. Prominenz (Schily), Kamerateams („tagesthemen“) und Kulturbeflissenheit (Christina Weiss) ohne Ende. Allgemeine Schiller-Auferstehung also, als wolle sich dieses Land verschwören, diesem Autor Leben einzuhauchen. Hätte wohl nicht viel gefehlt, dass alle erwarten, dass das Denkmal vom Gendarmenmarkt vom Sockel steigt und selbst mal bei der Akademie vorbeiguckt.

Auch ohne so eine frohe vorösterliche Botschaft ist dieser Publikumserfolg erstaunlich. Immerhin gilt er einem Autor, der auf deutschsprachigen Bühnen derzeit alles andere als lebendig ist, dessen Rezeption über viele Jahrzehnte etwas Tanten- und Onkelhaftes hatte, wie etwas Auswendiggelerntes und dann artig Aufgesagtes, und dessen kulturtheoretische Hauptschrift, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, schwer und über weite Strecken gar nicht mehr verständlich ist.

Event-Kultur, natürlich. Aber immerhin widerspricht die Schiller-Feierei schon jetzt sehr schön der gängigen kulturkritischen Redeweise, nach der sich die Massen gerade den niederen kulturellen Bereichen zuwenden. Wie das Alexander-von-Humboldt-Projekt neulich, wie vergangenes Jahr die MoMA-Ausstellung in Berlin zeigt auch der gegenwärtige Schiller-Hype, dass das, was früher Hochkultur hieß, inzwischen Mainstream geworden ist. Wer kulturelle Distinktionen will, muss sie sich woanders suchen. Mit seiner Schiller-Verehrung, wenn man denn eine hat, findet man sich mitten im Herzen der Berliner Republik wieder (wie das mit dem Ansatz Schillers in der „Ästhetischen Erziehung“ zu vermitteln ist, nach der ein Künstler auch gegen die Zeitläufte anschreiben muss, um den Lesern zu geben, „was sie bedürfen, nicht was sie loben“, steht auf einem anderen Blatt).

Eine kleine Nörgelei dann aber doch. Wer sich wie ich in diesen Schiller-seligen Zeiten sozusagen als Veteran der Klassiker-kritischen Literaturwissenschaft outen muss oder vielleicht doch eher darf – ja, ich habe im Sommersemester 1988 an einem Seminar mit dem Titel „Anti-bürgerliche Klassiker-Inszenierungen“ teilgenommen, eine damals zugegebenermaßen etwas verspätete Übung in post-marcuseschem Geiste –, für den wird die Feierei derzeit zu glatt verlaufen. Und zwar nicht allein deswegen, weil ein paar Seitenblicke in eine der vermurkstesten Rezeptionsgeschichten der deutschen Hochkultur – patriotische Schiller-Feiern im Kaiserreich, ein regelrechter Schiller-Kult bei den Nazis – schon ganz gut wären. Und auch nicht aufgrund des kultursoziologischen Mechanismus, nach dem ein gesellschaftliches Hochgucken zu den Klassikern immer auch mit einem gesellschaftlichen Runtertreten der angeblich unteren Schichten verbunden war, Klassikerverehrung also oft nur die eine Seite einer Medaille war, auf deren anderer Seite Klassenkampf nach unten angesagt war.

Nein, die Feierei erscheint deshalb zu glatt, weil Schiller alles kritische Rütteln und Schütteln an seinem Denkmal bislang ja offensichtlich dann doch ganz gut überstanden hat: Irgendwo müssen all die Verehrer ja herkommen! Ob er die derzeitige neue Schiller-Umarmung auch aushält, das muss sich noch zeigen.

DIRK KNIPPHALS