Schnitt quer durch die Pupille

Mit einer Surrealismus-Reihe begleitet das Abaton-Kino die Ausstellung „Begierde im Blick“ der Kunsthalle

Weiblicher Körper als „Kampfzone“ der Avantgarde-KünstlerLabyrinthe aus Andeutungen und Vermutungen

Ein Balkon in der Nacht. Ein Mann schärft sein Rasiermesser in der Nähe eines Balkons. Der Mann betrachtet durch die Fensterscheibe den Himmel und sieht ... eine leichte Wolke, die sich dem Mond nähert. Dann der Kopf eines Mädchens mit weit aufgesperrten Augen. Eine Rasierklinge bewegt sich auf eines dieser Augen zu. Die leichte Wolke zieht jetzt am Mond vorüber. Die Rasierklinge fährt durch das Auge des Mädchens und schneidet es entzwei.

Die Einleitungssequenz aus dem Drehbuch des 1928 entstandenen Films Un Chien Andalou von Luis Buñuel und Salvador Dali ist an Drastik kaum zu überbieten. Doch sie ist mehr als bloß schockierend: Sie ist der Höhepunkt des surrealistischen Films, und sie ist Metapher für die funktionale Bedeutung des weiblichen Körpers im Surrealismus: Er ist eine Kampfzone, in der die künstlerische Avantgarde traditionelle Darstellungsformen herausfordert. Der Inbegriff des surrealistischen Filmschocks ist exakt dieser Moment: Das Auge einer Frau wird zerschnitten, ihre Augen werden „geöffnet“ – doch nicht Blindheit ist die Folge, sondern – nach surrealistischem Verständnis – der Blick nach innen.

Un Chien Andalou – dieses bürgerschreckhafte Werk steht am Anfang einer Filmreihe im Abaton-Kino, die die heute startende Kunsthallen-Ausstellung „Begierde im Blick. Surrealistische Photographie“ begleitet. L‘Âge D‘Or, ebenfalls von Buñuel und Dali, ist auch zu sehen – die Geschichte einer amour fou, die die Stabilisatoren der Ordnung – Kirche, Militär und Polizei – mit einem symbolistischen Bilderstrudel herausfordert.

Doch neben Klassikern gibt es auch Raritäten, die bisher kaum den Weg in die Kinos fanden, wie Peter Schamonis Dokumentarfilm Max Ernst. Mein Vagabundieren, meine Unruhe (1991) oder Rendezvous der Freunde (1992), ein Film, der die Geschichte des gleichnamigen Gemäldes von Max Ernst erzählt.

Und noch einmal Luis Buñuel: Der diskrete Charme der Bourgeoisie, das Spätwerk von 1972, erzählt die Geschichte eines stetig verhinderten Abendessens einer Gruppe von Freunden, eine schwarze Komödie aus Angstträumen und imaginierten Komplexen, voller Giftpfeile gegen das Bürgertum.

Auch Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais, entstanden 1961, als die Kraft der surrealistischen Bewegung lange verblasst war, bedient sich surrealistischer Stilmittel: Die streng stilisiert gefilmte Geschichte der Dreierbeziehung der beiden Männer „X“ und „M“ und der Frau „A“ ist so labyrinthisch und uneindeutig wie die Bilder – es gibt keine Wahrheit in diesem Film, nur Andeutungen und Vermutungen.

Mit Eraserhead, Blue Velvet und Mullholand Drive von David Lynch beleuchtet die Reihe schließlich auch surrealistische Tendenzen in der zeitgenössischen Filmkunst. Ob Lynch tatsächlich als surrealistischer Filmemacher zu bezeichnen ist, darüber kann man lange diskutieren, doch vielleicht kann Lynch tatsächlich als Widergänger der Surrealisten gelten: in seiner konsequenten Absage an eine klassische Erzählweise etwa, in seiner Fokussierung auf das subjektive, verdrängte „Andere“ und Irrationale, in der Verunsicherung, die seine Filme im Betrachter auslösen. Und in der Gewissheit natürlich, das mit einem Happy End einfach nicht zu rechnen ist.

Marek Storch

„L‘Âge D‘Or“: 13.3.+ 20.3., 11 Uhr„Max Ernst. Mein Vagabundieren, meine Unruhe“: 28.3., 17.+ 24.4., 11 Uhr„Rendezvous der Freunde“: 3.+10.4., 11 Uhr„Der diskrete Charme der Bourgeoisie“: 30.4., 1.+8.5., 11 Uhr„Das Gespenst der Freiheit“: 22., 28.+29.5., 11 Uhr„Letztes Jahr in Marienbad“: 14., 15.+21.5., 11 UhrDie Termine für „Eraserhead“, „Blue Velvet“ und „Mullholand Drive“ sind noch offen. Info unter www.abaton-kino.de