Die Krise der Gegenwart

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Früher herrschte, strahlt Opa, eine viel strengere, zugleich zwanglosere Sittlichkeit

„Friedrich Schiller, Das große Projekt der ästhetischen Erziehung … Schiller fragt in seiner Abhandlung nach der Rolle der Künste für die Kulturentwicklung der Menschheit. Heute stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Künste in einer Zeit des Umbruchs, der Krise leisten sollen oder können.“ Akademie der Künste, Berlin. Programm März/April 2005

Heute soll mal wieder Opa reden. Er macht sich so gern lustig über das, was Kinder und Enkel gerade so aufregt, die Massenarbeitslosigkeit, die Visa-Affäre, die Außenpolitik von George W. Bush, der Tod des kleinen Peter. Er sei ja schon länger dabei, sagt Opa, er habe schon so manche Krise und jede Art Umbruch erlebt.

Den Mord am kleinen Timo, die Kubakrise, die Spiegel-Affäre, den Ölschock. Oder ob uns der Mauerbau, die Suezkrise, der Ungarnaufstand, der 17. Juni besser konvenieren? Von dem ganz großen Ding, dem Kriegsende 1945, zu schweigen …

Aber dem Enkel sagt schon die „Suezkrise“ wenig, und Opa beginnt, behaglich von Anthony Eden zu erzählen, dem so viel versprechenden Nachfolger Winston Churchills als englischer Premier, so behaglich erzählt er, dass die Neugier des Enkels gleich erlischt.

Die Kubakrise jedenfalls, sagt Opa, um die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer besorgt, die Kubakrise machte uns richtig schwere Angst vor dem dritten Weltkrieg. Man horchte in den Himmel, ob die Bomber schon kämen. Die meisten Leute verstanden sich ja noch auf das Motorengeräusch von Bombenflugzeugen. Diesmal würden sie etwas abwerfen, was … Dagegen waren eure Ängste wegen der Nachrüstung unter Ronald Reagan bloß Futzelklamauk. Und wer 1945 erlebt habe, den könne eh nichts mehr erschrecken.

Aber das sei lang her, intervenieren die Kinder und Enkel. Dass die USA sich dem Kioto-Protokoll verweigern und damit die Klimakatastrophe befördern, das sei aber jetzt. Das, repliziert Opa gemütlich, gilt für jede Gegenwart. Das könnten wir uns gar nicht vorstellen, wie jetzt das zertrümmerte Deutschland 1945 war, unhintergehbar. Alle Versuche, wenigstens die Macht und Schönheit der deutschen Kunst und Kultur dagegen zu beschwören, blieben kraftlos. Es misslang Schiller oder Goethe (oder Beethoven oder Albrecht Dürer), das Elend der Gegenwart zu überstrahlen.

Aber niemand versuche, trotzt weiter der Enkel, die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit durch Erinnerungen an Albrecht Dürer zu bekämpfen. Aber durch andere Erinnerungen!, widerspricht Opa vergnügt. An den vorbildlichen rheinischen Kapitalismus beispielsweise, der die Verantwortung des Kapitals gegenüber der Gesellschaft anerkannte. Während heute, im Zeitalter des Neoliberalismus und der Globalisierung, wo kein Ostblock dem Imperialismus mehr Widerstand entgegensetzt …

Zu seiner Zeit, spottet Opa, konnte Schiller noch bedenken, wie die Kunst zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts beitragen möge. Heute hingegen, in dieser Zeit der Krise und des Übergangs, muss man skeptisch bleiben.

Es wäre ja schön, wenn Beethovenkonzerte in Afrika die Menschenrechte durchsetzen hülfen – aber das erwartet auch niemand, trotzt uneingeschüchtert der Enkel. Schaut man sich Schillers Abhandlung genauer an, so Opa unbeirrt, muss man sie höchst verworren finden. Keineswegs meint er mit ästhetischer Erziehung, dass die Menschheit mehr Musik hören oder öfter ins Theater gehen solle. Er versucht, mittels der Ästhetik zwischen zwei Monumentalproblemen seiner Gegenwart hindurchzusteuern. Zum einen der Fürstenherrschaft, gegen die er bekanntlich rebellierte; zum anderen der Französischen Revolution, die er unterstützte, die aber eben in blutigen Terror abrutschte. Schiller lebte in einer Zeit der Krise und des Übergangs und versuchte, sich mittels der Ästhetik mühsam und unbeholfen eine schöne Zukunft zu erträumen. Was ihm misslang; wer die Abhandlung liest, wie gesagt, kommt gar nicht dahinter, was er sich genau erträumt. Schweres Grübeln, ziel- und ergebnislos.

Ja und?, fragen Sohn und Enkel missgestimmt. Was ist hier unser Ergebnis?

Die Gegenwart, strahlt Opa, ist immer eine Zeit der Krise und des Übergangs, ganz egal, was gerade ansteht. Wer über die Gegenwart spricht, sagt, dass alles schief läuft, ungelöste Probleme sich häufen und sukzessive immer unlösbarer werden. Helmut Schmidt hat die Dinge noch angepackt, deshalb hieß er „der Macher“; Gerhard Schröder lässt sie bloß noch treiben.

Während die Krise, womöglich Katastrophe die Gegenwart bestimmt, strahlt Opa, war die Vergangenheit stets das goldene Zeitalter. Helmut Schmidt konnte noch regieren, der rheinische Kapitalismus bewies soziale Verantwortung, Schiller konnte sich noch programmatische Gedanken über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts machen: Stets hebt sich die trübe Gegenwart gegen eine leuchtende Vergangenheit ab. Dass die Ereignisse ebenso trübe ausschauten, als sie Gegenwart waren, ist darüber vergessen. Es muss der Vergangenheitsmodus selber sein, der ad hoc die Vergoldung besorgt; kaum ist die Chose durch, schaut sie prima aus.

Aber an das Dritte Reich, fährt der Enkel fort zu trotzen, wird sich doch niemand als goldenes Zeitalter erinnern?

Hast du eine Ahnung!, interveniert die Tochter. Das habe sie noch selber erlebt, wie die Leute von Hitler schwärmten, wie seine Wirtschaftspolitik die Massenarbeitslosigkeit beendete, wie seine Außenpolitik die Feinde des Reichs zum Einlenken bewog und den Versailler Vertrag demontierte. Und unter Hitler hieß es sofort, wenn ein Sittenstrolch sich an Kindern verging: Rübe runter!

Niemand versuche, trotzt der Enkel, die Arbeitslosigkeit durch Erinnerungen an Dürer zu bekämpfen

Überhaupt herrschte früher, strahlt Opa unentwegt, eine viel strengere, zugleich zwanglosere Sittlichkeit. Die Menschen achteten selbst darauf, dass die Kinder keine Graffiti an die Wände malten, man überließ die Kontrolle nicht der Polizei. Heute herrschen Werteverfall und Wegschauen, kichert Opa, man kann sauber den Mechanismus studieren: Früher gab es keine Graffiti – dass die spontane Sozialkontrolle sie verhinderte, muss man bezweifeln. Dafür gab es früher als Jugendproblem die Halbstarken, und sie verschmutzten mit ihrem Mopedlärm und ihrer lauten Musik unsere friedlichen Sonntage, und die Polizei konnte nichts machen.

Okay, sagen Kinder und Enkel, die Vergangenheit ist stets golden. In den Siebzigerjahren herrschte noch ein Ideal des politischen Engagements. Die Gegenwart ist Krise und Übergang, klare Antworten auf politische Fragen kann niemand geben, und die Bürger verfolgen nur ihre persönlichen Interessen. Aber was ist mit der Zukunft?

Die Zukunft, strahlt Opa, ist das Allerschwärzeste. Wenn die Gegenwart nur Krise und Übergang ist, dann erzählt sich die Zukunft regelmäßig als Katastrophe. Weiß doch jeder. Die fossilen Brennstoffe. Die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung. Das Rentensystem. Das Weltklima. Die USA als Ordnungsmacht bei nationalen Krisen. Die Berlinale.

Dabei müsst ihr mal darauf achten, kichert Opa, und niemand kann ihn stoppen: Niemand rechnet damit, dass er den Weltuntergang persönlich erlebt. Eintreten wird er mit Sicherheit erst kurz nach deinem Tod.