Analog und ehrlich

Der Berliner Disko-Liebhaber Kaos beweist mit seinem neuen Album „Hello Stranger“ auf dem !K7-Label: Attitüde ist alles. So kann selbst die rastlose Flucht vor dem Hype wieder stilbildend werden

„Hello Stranger“ ist ein verspieltes Medley auf die glitzernden Diskokugeln der Welt

VON PATRICK BAUER

So gegen vier Uhr morgens holte Kaos die Bongotrommeln hervor. Auf der Tanzfläche des F.U.N.-Clubs hoch über dem Alexanderplatz waren plötzlich wieder rhythmischste Diskotugenden gefragt, während sich Kaos hinter dem DJ-Pult in ungeahnte Soulhöhen jammte. Es war schweißtreibende Arbeit, Kaos wischte sich die Haare aus der Stirn, klopfte sich auf seinen Brustkorb und krächzte: „Das kommt von Herzen!“

Hätte es noch einen Beweis dafür gebraucht, dass in Berlin längst alle Genregrenzen gefallen sind und der Stilbruch stilprägend geworden ist – Kaos lieferte ihn an diesem Abend. Er liefert ihn auch mit seinem neuen Album „Hello Stranger“. Denn während Berliner Clubs wie das Rio oder das 103 ihren Eklektizismus quer durch die Musik der letzten zwanzig Jahre feiern, schließt der Tresor als Bastion des technoiden Schubladendenkens. Und während das LCD Soundsystem von New York aus ein Style-Ausrufezeichen des postelektronischen Funks sendet, das scheinbar jeder gut zu finden hat, sitzt Kaos, ehemals DJ Kaos, in einer Mitte-Bar und zuckt mit den Schultern: „Anything goes!“

Für das Exmitglied der Berliner Trip-Hop-Formation Terranova ist „Hello Stranger“ aber nicht visionär: „Das Album spiegelt ganz einfach mein DJ-Dasein wider. Ich habe die letzten vier Jahre extrem viel aufgelegt, und Trends wie Electro Clash sind an mir vorbeigegangen.“ Kaos versucht mit einem frisch gepressten Orangensaft seinen Schlafmangel zu kompensieren und macht klar: Alles ist easy. Am Ende seiner Sätze steht meist ein „Weißt du, was ich meine?“. You know what I mean. „Es heißt, das Album sei Neo Disco. Aber ich habe damit nichts zu tun.“

So unschuldig, wie er tut, ist Kaos natürlich nicht. Schließlich unterstreicht „Hello Stranger“ eine neue Qualität von Clubmusik: Offenheit. Die neun Songs – oder Tracks? – sind bei Carl Craig in die Detroit-Schule gegangen, kennen Italo Disco von A bis Z, aber sie stehen eben auch auf Franz Ferdinand. Kaos hat keine Angst vor Gitarren: „Meine Eltern sind typische 68er. Da lief Led Zeppelin oder Fleetwood Mac. Das gehört zu meinem Musik-Universum!“ Kaos hat genug von digitalen Hochglanz-Produktionen, die ihm allesamt zu poliert klingen. Es muss wieder analog und ehrlich sein, denn: „Ich bin Oldschool!“

Kaos holte sich Erlend Oye oder Matt B. Safer von The Rapture ins Studio, summte ihnen eine Melodie vor und setzte sich dann selber hinter das Schlagzeug. „Ich habe richtig klassisch ein Album aufgenommen und es hat sich viel organischer angefühlt“, sagt Kaos. Viel mehr Organ als im hitverdächtigen „Boogie Boy“ geht wirklich nicht: Captain Comatose legt so viel Verve in seine Stimme, dass inmitten der funky Melodien und hüpfenden Bässe die Roots schwarzer Musik zelebriert werden.

Die Musik, die Kaos in seiner behüteten Zehlendorfer Jugend prägte, kam auch aus den schwarzen Ghettos der USA. Stundenlang zeichnete er amerikanische HipHop-Radiosendungen auf. Als er längst Graffiti-Künstler war, kam er über den Umweg Terranova zum Techno, zum House und übte sich Ende der Neunzigerjahre als Ghost Cauldron im Versuch, HipHop einen zeitgemäßen Rahmen zu verpassen. Und bereits 1998 bewies er, der als Produzent in London lebte, mit seiner „DJ Kicks“-Auswahl auf K7 seine Treffsicherheit.

„Ich sage nicht, dass mein Geschmack perfekt ist“, meint Kaos, „aber wenn ich mir manchen Hype anhöre …“ Er, so scheint es, ist auf der Flucht vor dem Hype – und genau diese rastlose Lässigkeit ist definitiv der aktuelle Hype. „Ich habe immer das gemacht, was ich wollte, und bin über so viele Musikrichtungen gesurft, dass jetzt nach zehn Jahren alles zusammenkommt.“ „Hello Stranger“ ist ein verspieltes Medley auf die glitzernden Diskokugeln der Welt, als hätte eine ganze Band versucht, den Moment des überspringenden Funkens vom DJ zum Publikum festzuhalten. „Ich wollte eine Platte machen, die im Club funktioniert, die man aber auch alleine und nebenbei hören kann“, sagt Kaos.

Catchy sind die Retro-Pianos, eingängig die pathetischen Vocals, und manchmal scheint es, als stagniere die Selbstverliebtheit dieses Wohlfühl-Chics. Von Anfang bis Ende steht „Hello Stranger“ mitten im Höhepunkt: Keine Tiefen, wenige Spitzen. Ganz so wie ein Abend im Berliner Nachtleben, das laut Kaos einmalig ist: „Diese Kreativität, diese Energie. Das gibt es nirgendwo sonst.“

Als im F.U.N.-Club die erste Euphorie verflogen ist, steht Kaos vor dem Berliner Morgenhimmel und lächelt selig. Das Lieblingskind der Berliner Szenegänger hat sich wieder ausgetobt. „Hier, wo niemand die Nase rümpft, wenn man Donna Summer spielt.“ Kaos – und hier liegt der Unterschied – meint nicht etwa den samplewütigen Elektroschocker Donna Summer, nein, er meint Donna Summer, die Disko-Diva. Verstehst du, was ich meine?

Kaos: Hello Stranger (!K7 Records)