„Sie wissen viel zu wenig“

ANSCHLÄGE Polizei und Nachrichtendienste kennen die radikalisierte islamistische Szene hierzulande nicht gut genug, sagt der Terrorismusexperte Guido Steinberg

■ 41, Islamwissenschaftler, erforscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik islamistischen Terrorismus. Zuvor war er im Bundeskanzleramt.

INTERVIEW DANIEL SCHULZ

Herr Steinberg, die Bundesregierung will gegen potenzielle Terroristen vorgehen wie gegen Hooligans. Kann das klappen?

Guido Steinberg: Fakt ist, es gibt den Wunsch der al-Qaida in Pakistan, Anschläge hierzulande zu verüben – dokumentiert ist das in Videos spätestens seit 2007. Grundsätzlich ist es deshalb richtig, vor den Bundestagswahlen die Sicherheit zu verstärken und bekannte Islamisten verschärft zu überwachen. Dennoch können diese Maßnahmen eine entscheidende Schwäche der deutschen Sicherheitsbehörden nicht verdecken.

Welche?

Sie wissen viel zu wenig über das, was in der radikalisierten islamistischen Szene abläuft. Nehmen wir nur einmal die 140 Gefährder, welche die Polizei zu Hause besuchen will. Bisher war es stets ein Problem, dass die Leute, die hier Anschläge verüben wollten, bis zu ihrer Festnahme gar nicht als Gefährder auf den Listen der Polizei auftauchten. In der Szene bewegt sich viel, neue Leute kommen hinzu und andere tauchen ab.

Aber können die Behörden die Szene nicht einschüchtern?

Wie wollen Sie denn jemanden einschüchtern, wenn sie nicht einmal genau wissen, wer dieser jemand ist? Unter dem Verfolgungsdruck der vergangenen Jahre sind viele radikalisierte Islamisten aus Deutschland an Sprachschulen überall in der arabischen Welt gegangen – nach Ägypten, Syrien, manche sogar in den Jemen. Andere suchten die Trainingslager in Pakistan auf. Über diese Leute wissen die Behörden sehr wenig.

Wie soll sich das ändern?

Vor allem die Nachrichtendienste müssen näher an diese Szene heran. Sie brauchen Muttersprachler, die dazu fähig sind, in das Milieu einzutauchen – nicht nur Islamwissenschaftler, die das Ganze lediglich von außen beobachten können. Bisher setzen die Dienste und die Polizei außerdem zu sehr auf technische Überwachung. An die wirklichen gefährlichen Aktivisten kommt man jedoch nur mit menschlicher Informationsgewinnung heran. Diese Leute muss man erst einmal finden.

In anderen Ländern gibt es Modellprojekte zur Deradikalisierung von Jugendlichen

Was ist dran an der Theorie, dass die Filiale von al-Qaida in Nordafrika einen Anschlag in Deutschland verüben soll?

Meiner Meinung nach gar nichts. Laut den US-Informationen klingt es ja so, als hätte die al-Qaida von Bin Laden den Nordafrikanern den Befehl gegeben, in Deutschland Anschläge zu verüben. Aber die al-Qaida im Maghreb ist keine Befehlsempfängerin von Bin Laden. So funktioniert die Organisation nicht.

Das heißt, Sie widersprechen also der Behauptung, al-Qaida sei eine globalisierte Terrororganisation?

Nein, aber sie funktioniert nicht wie eine Armee oder wie ein Konzern. Die Terroristen im Maghreb haben den Namen al-Qaida angenommen, weil ihnen die Rekruten in Richtung Irak davongelaufen sind. Dort schien das Kämpfen attraktiver zu sein. Die algerische al-Qaida hat sich Ussama Bin Laden nur in der Theorie untergeordnet. Ihr Hauptziel bleibt der Sturz des Regimes in Algerien.

Wer könnte sonst einen Anschlag in Deutschland verüben?

Da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder es gibt in Deutschland doch drei, vier Rekruten, welche den Sicherheitsbehörden nicht bekannt sind. Das wäre angesichts der benannten Schwächen nicht unwahrscheinlich. Oder Aktivisten versuchen, aus Pakistan einzureisen. Gleich drei Organisationen haben Deutschland von dort aus ins Visier genommen: al-Qaida, die Islamische Dschihad Union und die Islamische Bewegung Usbekistan.

Die Bundesregierung will mit einem Aktionsplan mögliche Terroranschläge vor der Bundestagswahl verhindern. Das meldet der Spiegel. Geplant seien unter anderem umfangreiche Kontrollen der Reisenden von und nach Pakistan oder Nordafrika auf deutschen Flughäfen. Verdächtige Passagiere sollen noch am Terminal vom Verfassungsschutz befragt werden. Zudem wollen die Sicherheitsbehörden Hausbesuche bei den 140 Islamisten machen, welche die Polizei als Gefährder einstuft. Besonders im Visier stehen dabei Sympathisanten der al-Qaida im Maghreb. Aufgrund von US-Information gehen die deutschen Behörden davon aus, dass Terroristen aus Nordafrika in Deutschland einen Anschlag vorbereiten. DAS

Ist Überwachung also die einzige Lösung?

Kurzfristig bleibt uns hierzulande nichts anderes übrig, weil wir die längerfristigen Ansätze bisher vernachlässigt haben. In Großbritannien und den Niederlanden gibt es vielversprechende Modellprojekte zur Deradikalisierung von Jugendlichen. In Amsterdam existieren Stellen, an die sich jeder wenden kann, der bei einem Bekannten eine Radikalisierung bemerkt. Dann wird versucht zu helfen.

Und wie?

Vielleicht mit einer Beratung bei familiären Problemen. Oder indem man versucht, einen Job für den Betreffenden zu finden. Die Idee dahinter ist, das Problem auf lokaler Ebene anzugehen. Die Menschen sollen gar nicht erst ins radikale Milieu abrutschen.