BETTINA GAUS POLITIK VON OBEN
: Ein Freischuss, mehr nicht

Abgeordnete des Deutschen Bundestages stimmen oft lieber nicht für das, was sie wirklich denken

Durch Wahlen ändert sich nichts? Doch, schon. Etwa 30 Prozent der bisherigen Abgeordneten, so schätzt der CDU-Politiker Willy Wimmer, werden dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören. Beim letzten Mal hätten rund 40 Prozent ihre Stühle geräumt. Wimmer sieht darin ein Zeichen für „Betriebsunzufriedenheit“. Er meint nicht die Bevölkerung. Er meint die Abgeordneten.

Wimmer weiß, wovon er spricht. Seit 1976 sitzt er im Parlament, jetzt kandidiert er nicht mehr. „Die Rolle des Abgeordneten degeneriert“, sagte er im Fernsehsender Phoenix. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten der Disziplinierung von Parlamentariern. Sie bekommen keine Redezeit im Bundestag, Dienstreisen werden nicht genehmigt. Nickeligkeiten, die wehtun.

Willy Wimmer hat als einziges Mitglied seiner Fraktion gegen Jugoslawienkrieg und Afghanistaneinsatz gestimmt. Andere fanden die Beschlüsse ebenfalls falsch, wollten aber nicht dagegen votieren. „Ich habe ein anderes Kernanliegen“, sagte mir seinerzeit ein SPD-Politiker. Wenn er gegen den Krieg stimmte, dann, so fürchtete er, werde er dafür bei seinen eigenen Vorhaben abgestraft. Außerdem: Widerspreche man der Fraktionsführung zu häufig, gelte man schnell als Querulant.

Annelie Buntenbach, heute DGB-Vorstand, früher Grünen-Abgeordnete und ebenfalls Kriegsgegnerin, hat ähnliche Erfahrungen. Der Angriff auf Jugoslawien war in der Fraktion heftig umstritten. Mehrere Abgeordnete verweigerten die Zustimmung. Aber gegen Kürzungen der Sozialleistungen wollte danach niemand mehr stimmen, erzählt sie. Bloß nicht das Klischee der Unzuverlässigkeit in der Koalition bedienen.

Manche hätten gar nicht genau gewusst, was im Haushaltsplan eigentlich drinstand – und ihren Erklärungen nicht geglaubt: „Das kann nicht stimmen, was du sagst. Wenn das so wäre, dann würden wir dem doch nicht zustimmen.“ Hübscher Zirkelschluss. Die Sehnsucht nach Nestwärme treibt seltsame Blüten.

Einen Schuss hat jeder frei – aber nur einen: Ist das die Freiheit des Abgeordneten? Willy Wimmer hat jetzt eine Enquetekommission zur Rolle der Abgeordneten gefordert. Gute Idee. Vielleicht würde das auch die „Betriebsunzufriedenheit“ in der Bevölkerung mindern.

■ Die Autorin ist politische Korrespondentin der taz Foto: Amélie Losier