Alt, behindert, hilfsbedürftig

STUDIE Die Zahl der alten Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen wird stark steigen. Darauf sind wir bisher nicht eingestellt

Mit ihnen hat bisher niemand gerechnet: Immer mehr schwerbehinderte Menschen erreichen in den nächsten Jahrzehnten das Rentenalter, ohne dass das Sozialsystem dafür gerüstet ist. Nach Schätzungen des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wird die Zahl der Behinderten von derzeit 6,7 Millionen auf 8,5 Millionen im Jahr 2050 steigen. Laut einer Studie des Instituts wäre dann jeder achte Bundesbürger behindert, heute ist es jeder zwölfte. Bei seinen Berechnungen geht das Institut davon aus, dass die Bevölkerung wie vom Statistischen Bundesamt prognostiziert um 14 Millionen Menschen abnimmt und die Wahrscheinlichkeit für eine Behinderung gleich bleibt.

Eine Rentnergeneration von Behinderten habe es in Deutschland so noch nicht gegeben, erklärte Institutsdirektor Reiner Klingholz bei der Vorstellung der Studie. Die Nationalsozialisten hatten viele Menschen mit körperlichen Handicaps und psychischen Krankheiten ermordet; nur wenige Behinderte erreichten überhaupt ein höheres Lebensalter. Dies sei nun erst denjenigen in großer Zahl möglich, die nach dem Krieg geboren wurden, sagte Klingholz. Zudem ist die Lebenserwartung der Betroffenen wegen der medizinischen Fortschritte gestiegen. „Früher wurden Behinderte nicht alt“, erklärte er.

Dazu kommt, dass die Generation der „Babyboomer“ aus den 1960er-Jahre demnächst in Rente geht, darunter etliche Menschen mit Behinderungen. Schließlich ist aber auch die Zahl der Behinderten gewachsen. Schuld daran sind psychische Krankheiten. Während sie 1987 etwa 100.000 Menschen betrafen, verdreifachte sich ihre Anzahl bis 2005 fast auf 270.000.

Die Studie untersuchte Menschen, die geistig oder mehrfach behindert sind und daher Anspruch auf einen Platz im Heim, Arbeit in einer Werkstatt oder auf ambulante Betreuung haben. Dabei zeigte sich: Der Großteil der Menschen in Wohneinrichtungen und Werkstätten ist heute im Alter zwischen 40 und 50, viele werden in etwa 15 Jahren in Rente gehen. Dann brauchen sie vor allem tagsüber eine andere Unterstützung als heute, weil die Betreuung durch eine Behindertenwerkstatt fortfällt. Außerdem steigt mit dem Alter der Anteil der Pflegebedürftigen.

Bislang sind Behindertenheime nicht gut auf alte Menschen vorbereitet, da nur ein Bruchteil der Bewohner jenseits der 60 ist. Das wird sich drastisch ändern. Waren im Jahr 2006 von 100 behinderten Heimbewohnern 17 im Rentenalter, werden es laut der Studie 2026 mindestens 3,4-mal so viele sein. Zudem wird der Bedarf an Wohnheimplätzen steigen. Denn ein Teil der Behinderten lebt heute noch bei seinen Eltern. Diese werden aber irgendwann zu gebrechlich sein, um ihre Kinder zu betreuen. In naher Zukunft seien daher 50.000 weitere Heimplätze für behinderte Senioren nötig, sagte die Autorin der Studie Ylva Köhncke.

Die Mehrheit der behinderten Menschen zöge jedoch ein Leben im eigenen Zuhause einem Heim vor. Die wenigsten wollten in einer Wohngruppe leben, berichtete Köhncke. Demzufolge sei es wichtig, die ambulante Versorgung auszubauen. Dafür sprächen auch Kostengründe. Köhncke: „Für die ambulante Betreuung in den eigenen vier Wänden gaben die Sozialämter 2006 rund 7.400 Euro pro Empfänger aus, für die Versorgung im Heim hingegen 26.000 Euro.“

MARTINA JANNING