Ein kontrollierter Fall ins Kristall

Auf die kleinsten wahrnehmbaren Teilchen kommt es an: Carsten Nicolais Installation „syn chron“ in der Neuen Nationalgalerie ist ein gigantisches Soundsystem, auf dessen Oberfläche Laserlichter tanzen. Abends funkelt das Objekt wie ein Diamant

von HARALD FRICKE

Seeboote bei James Bond sehen so aus. Man könnte auch an ein überdimensionales Panzerfahrzeug denken, irgendein Ungetüm aus einem Science-Fiction-Film. Dabei ist das tatsächliche Vorbild nur unter dem Mikroskop zu erkennen: Für „syn chron“ hat der sonst mit knisternden Elektronik-Sounds arbeitende Klangkünstler Carsten Nicolai ein winziges Kristall nachbauen lassen. Was in der Natur ein zehntel Millimeter groß ist, erstreckt sich nun auf drei Meter Höhe und bald zehn Meter Breite im Obergeschoss der Nationalgalerie. Das futuristische Raumschiff ist gelandet.

Die Irritation wächst, wenn man sich „syn chron“ nähert. Aus dem Innern dringen zischende Laute, am Boden dröhnt ein Bass, manchmal beginnt der Sound auch in den oberen Lagen zu sirren, was die Programmierung hergibt. Dann setzen Laserstrahlen ein, die von der Museumsdecke auf das Objekt gerichtet sind: Lichtwellen tanzen über die Wände, bei einem besonders hohen Fiepgeräusch wandern dutzendweise Punkte über die Oberfläche oder fügen sich zu flirrenden Mustern zusammen. Wenn man abends im Dunkeln an der Nationalgalerie vorbeigeht, funkelt der bei Tag so massive Körper wie ein geschliffener Diamant. Der Zauber ist unwiderstehlich, selbst die Steglitzer Jugendlichen im 148er staunen für den Moment, in dem ihr Bus am Gesamtkunstwerk vorbeifährt.

Nicht von ungefähr bildet Nicolais Licht- und Sound-Installation den Anfang des diesjährigen MaerzMusik-Festivals, das sich vorrangig mit Klang im Raum auseinander setzt. Die Wände, aus denen das Objekt besteht, sind aus halbtransparentem Bienenwaben-Material konstruiert, sie dienen als Membran für 18 Lautsprecherkerne, über die der Sound direkt an die Architektur gekoppelt ist. Das Raumschiff schwingt mit jedem Ton wie ein mächtiger Resonanzkörper, die Architektur geht mit dem Klang eine seltsame Symbiose ein: Im Grunde ist „syn chron“ ein gigantisches Soundsystem.

Spätestens seit seiner documenta-Teilnahme 1997 gilt Nicolai als Spezialist, wenn es um solche Übertragungen von Akustik und Wissenschaft in Kunst geht: Formen, Töne, Räume – alles wird bei ihm zum flexiblen Material. Zuletzt hat er vor allem mit Versuchsanordnungen gearbeitet: Er hat Milch in Wannen gefüllt, die mit tiefen Frequenzen beschallt wurden, sodass die Bässe Wellen auf der Oberfläche bildeten; und für eine Installation in der Galerie Eigen + Art wurde ein Experiment mit Strom durchgeführt, bei dem der elektrische Funke immerhin ein paar Zentimeter zwischen den Polen hin und her sprang – ein blauer Blitz auf weißer Wand.

Das Objekt in der Nationalgalerie ist Nicolais bislang aufwändigste, wohl auch spektakulärste Arbeit. Vor zwei Jahren begann die Planung, wurde mit den Architekten Finn Geipel und Giulia Andi der über einen schmalen Steg begehbare Raum entworfen, Jenoptik lieferte die Laser. Dabei ist „syn chron“ ein Bau im Gebäude, eine Art Techno-Jurte, die auf die in den Sechzigerjahren entstandene Glas- und Stahl-Architektur der Nationalgalerie reagiert. Während aber Mies van der Rohes Gebäude ein Schmuckstück in Sachen Minimalismus und Funktionalität ist, kann man bei Nicolai kaum überblicken, wie sich die in zig Facetten zerklüftete Geometrie zu einem Ganzen zusammensetzt. „syn chron“ ist ein polygonaler Körper, bei dem keine der Seitenflächen identisch ist – die Antithese zum rechtwinkligen Raum.

Stattdessen hat sich Nicolai bei seinen Recherchen an dem gläsernen Pavillon orientiert, den Bruno Taut vor seinem Bekenntnis zur Neuen Sachlichkeit für die Werkbundausstellung 1914 in Köln entwarf. Damals stand an der Fassade der Satz „Das bunte Glas zerstört den Hass“. Heute wird man im Inneren von „syn chron“ mit digitalen Tracks und scharf konturierten Laserflashs umfangen. Auch darin liegt ein Widerspruch zu den früheren Utopien: Nicolai knüpft mit seinem Sound- und Licht-Environment nicht an die romantische Sehnsucht nach einem Rückzug in die Innerlichkeit an, sondern legt vielmehr an der Architektur selbst alle technischen Tricks offen. Noch am fertigen Objekt erkennt man den Bausatzcharakter aus Modulen und Verstrebungen.

Gerade die hohe „optische und akustische Neutralität“, wie Nicolai es nennt, setzt beim Publikum viel Aufmerksamkeit frei. Wo sonst kann man die Bässe durch die Fußsohle aufwärts bis zum Jochbein hören? Die dichten Cluster aus hohen Frequenzen machen den Kopf nach einer Weile frei, sodass man umso leichter den schnellen Laserbewegungen folgt – „syn chron“ ist auch ein Bild dafür, wie sich Wahrnehmung ereignet. Plötzlich werden minimale Abweichungen von Licht und Klang zu einer Spur, die sich in der Zeit erstreckt. Der Raum ist dann ein Gefäß für die wechselnden Eindrücke, ein Kino aus optischen und akustischen Reizen. So verwundert es kaum, dass sich Nicolai für Quantentheorie interessiert. Auf die kleinsten wahrnehmbaren Teilchen kommt es an. Manchmal braucht man ein ganzes Museum, um diese Welt en miniature aufzudecken.

Bis 3. April, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50