„Das musste von der Festplatte“

16 Jahre nach dem Eintritt in die Rente hat der Bremer Stahlwerker und Klöckner-Betriebsrat Gerd Balko seine Lebensgeschichte aufgeschrieben: Krieg, Vertreibung, Arbeitskampf, Studentenunruhen und Sozialabbau – ein spannendes Zeitdokument

Unvergesslich der Besuch in einer Berliner Kommune – wo studentische Langschläfer dem Familienvater die Brötchen wegfuttern. „Wenn man die Prozesse versteht, verschwindet der blöde, dumme Hass“, analysiert Balko.

bremen taz ■ Von seiner Marke gibt es wenige. Arbeiter und intellektuell. Vertriebener, aber nicht vergrämt. Acht Jahre Volksschule und Buchautor – auf 300 spannenden Seiten. „Ich hab’ gedacht, der Verlag streicht die Hälfte weg“, klingt Gerd Balko noch heute erstaunt. Ein schmales Bändchen hatte der 71-Jährige erwartet. Jetzt ist „Land in dunklen Zeiten“* ein dicker Wälzer über die jüngere deutsche Geschichte, der trotzdem nicht loslässt.

Geschrieben hat Balko seine Lebensgeschichte erst aus der Sicht eines Bauernsohnes und Kriegskindes in Ostpreußen. Ein Junge, der arm und reich und Macht und Ohnmacht schon kennengelernt hatte, bevor er als Jugendlicher die Deutschen fliehen und die Russen kommen sah, und währenddessen Hunger und alle Gräuel des Krieges durchlebte. Aus ihm wurde ein Mann, der „die alten, verfluchten Schablonen“ durchschaute – und der heute sagen will: „So gut wie jetzt ging es noch keiner Generation in Deutschland.“ Dabei hebt er nicht belehrend den Finger. Er schreibt einfach nur, wie es zu seiner Zeit war. „Erinnerungen eines Arbeiters“, untertitelt das Buch.

Eines ehemaligen Arbeiters. Der Stahlwerker und Klöckner-Betriebsrat Balko hat es erst jetzt geschrieben, 16 Jahre nach dem Eintritt in die Rente. Kollegen haben ihn ermutigt zum Buch. „Ich hatte früher ab und an mal gewerkschaftspolitische und betriebspolitische Sachen geschrieben“, sagt er bescheiden. Dann räumt er ein, dass er schon immer „ganz gut“ erzählen konnte. „Bei seiner Abschiedsfeier im Betrieb hat er so geredet, dass den Kollegen darüber das Essen kalt geworden ist“, lacht seine Frau.

Mit der Bremerhavenerin, die der Heimatlose nach der Flucht traf und mit der er später im gerade frisch gebauten Hochhaus-Stadtteil Neue Vahr die gemeinsame erste Wohnung mit Balkon und mehreren Zimmern regelrecht feierte, teilt er alles. Auch das Mini-Arbeitszimmer im kleinen Häuschen bei Bruchhausen-Vilsen. Zeichnungen der Enkelkinder markieren den Grenzverlauf zwischen ihren Kräftefeldern. Hier der Computer des arbeitenden Schriftstellers, dort die Nähmaschine, mit der die frühere Substitutin neben dem Kinder-groß-Ziehen immer auch Geld verdiente.

Balko hat schon überall gearbeitet. Als Landarbeiter erst bei Ost-Bauern, die fürchteten, dass ihr Land eingezogen würde. Dann bei Bauern im Nachkriegswesten, wo der Lohn für harte Arbeit allzu oft allzu wenig Essen war. Später auf dem Bau, wo wie überall dieser paramilitärische Kommiss-Ton herrschte, den Balko verabscheute – der aber erst in den 80er Jahren verschwand, als die alten Naziköppe aus den Ämtern abtraten.

Balko war auch im Ruhrpott an der „Kohlefront“. „Keine Propagandafloskel“, notierte der durch seine Zeit und seine Erlebnisse geprägte Antikommunist sehr kritisch über die Arbeitsbedingungen in der Schwerindustrie der 60er und 70er Jahre. Er selbst war schließlich bei Klöckner gelandet, den an der Weser aus dem Boden gestampften Bremer Stahlwerken, die zum Schmelztiegel sämtlicher Berufe und Nationalitäten wurden.

Aus dem „politischen Blindfisch“ (Balko über sich selbst) wurde Mitte der 70er Jahre der Betriebsrat. Einer, der die Vorbehalte der Kollegen gegen Faulheit und Genossenfilz kannte. Einer, der die „Verknöcherung des Gewerkschaftsapparates“ und die internen Machtkämpfe durchschaute und sich selbst auf die Seite der erstarkenden Außerparlamentarischen Opposition schlug. Ein Linker. Immer auf der Suche nach Analyse, immer im Versuch, „Prozesse zu verstehen“. Das hat er sein ganzes Leben gemacht.

„Wenn man die Prozesse versteht, verschwindet der blöde, dumme Hass“, sagt Balko. Ins Gefüge der Macht gegossen, sieht er sogar die Russen, die sein bäuerliches Elternhaus zerschossen und den Vater verschleppt haben, als Agenten ihrer Zeit. Er kann den Einzelnen verachten, auch den einzelnen Deutschen übrigens, das merken seine Leser. Aber nicht alle. Das macht seine Geschichte so lesenswert: Dass er die Guten und die Bösen überall gefunden hat und sie uns beschreibt ohne zu jammern. „Jammern wollte ich nie.“

Balkos Handwerkszeuge heißen Distanz und Ironie. Die wendet er auch auf sich selbst an. So lässt er nicht aus, wie der verlegen stotternde Arbeiter Balko von langhaarigen Studenten beklatscht wird – schon weil so einer in den bremischen APO-Zirkeln Seltenheitswert hatte. Unvergesslich sein Ausflug mit einer Delegation in eine Berliner Kommune – wo die studentischen Langschläfer-Genossen dem Familienvater die von seinem Geld gekauften Brötchen wegfuttern. Auch seinen „lieben Kollegen“ widmet er manche ironische Bemerkung. Schon haben sich die ersten wieder erkannt – die er so gezeichnet hat, als hätte er Tagebuch geführt. Nein, sagt Balko, „ich habe nur viel nachgedacht“. „Das war alles auf meiner Festplatte“, fasst er sich an den Kopf. „Das musste mal runter.“ Nur ein kleiner Wehmutstropfen bleibt: Das Buch ließe sich besser lesen, wenn der Verlag es ordentlich lektoriert hätte. Eva Rhode

*Land in dunklen Zeiten, Verlag Westfälisches Dampfboot, 29,80 Euro, Münster 2005