Schreiende Straßenlöwen

Fast wie Karl Dall: Punkrock mit Akkordeon und Geige von „Les Hurlements d‘Léo“ in der Fabrik

von Markus Flohr

Etwas wie die Hurlements d‘Léo kann es nur in Frankreich geben. Denn „naturellement“ kümmert sich der große Nachbar im Westen vorzüglich um seine heranwachsenden musikalischen Kinder, auch um die poppigen. „Natürlich“ fördert der französische Staat auch Kultur und Kunst mit üppigen Programmen und Mitteln, außerdem quotiert er frankophonen Radio- und Fernsehpop.

Das alles ist in Frankreich besser als in anderen Ländern, so lautet jedenfalls ein mindestens europaweit verbreitetes Vorurteil. Als sei dies kein Quatsch – übertrieben, klischeehaft –, sondern tatsächlich wahr, schwadroniert Benoit Chesnel, Gitarrist und Saxophonist bei Les Hurlements d‘Léo in einem Interview: „Die Kultur ist ja das Aushängeschild Frankreichs. Neben den Atomwaffentests ist Frankreich für seine Kultur bekannt.“

Vor zehn Jahren begannen seine Léos in Bordeaux und der Gegend drum herum ihre Karriere. Damals waren sie noch vier: zwei Sänger mit Gitarre, ein Kontrabassist und ein Mann mit Trommeln. Ihre Bühne war die Straße, war das Dorflokal. Sie trällerten, tatsächlich nur für Kost und Logis, französische Chansons à la George Brassens und Jaques Brel und welche aus eigener Feder. Im Programm hatten sie daneben Lieder von Popbands wie Noir Désir und Mano Negra, auch ein paar Nummern der Gruppe VRP. Letztere sind das französische Pendant zu Insterburg, der varietéhaften Akustikmusikkapelle aus den Siebzigern mit Karl Dall am Mikrofon.

Neben den ersten vier Instrumenten standen bei den Léos nach und nach ein Akkordeon, eine Trompete, eine Geige und ein Saxophon mit auf der Straße. Nach langen Tourneen durch den Süden und den Rest Frankreichs nahmen sie 1999 ihre erste Studioplatte Le café des jours heureux auf. Es folgte La belle affaire im Jahr 2000, im letzten Jahr das aktuelle Album Ouest terne. Heute sind die Léos ungefähr so groß wie ein Fußballteam, das Oktett hat auf allen Kontinenten dieser Erde musiziert. Ihr Salär reicht manchmal für ein wenig mehr als bloß fürs Bett.

In ihre versonnen flatternden Akkordeon-Balladen mit Geige und Kontrabass haben sie inzwischen Punkrock und Ska eingewoben, aus den schöngeistigen Wandersängern von einst ist eine veritable alternative Rockband geworden. Ihre Texte ziehen sie wie kunstvolle Fäden durch das akustische Grobzeug, am besten geht das für sie mit ihrer eigenen Sprache: Französisch. Sie erzählen, na klar, vom Lieben und Geliebtwerden, kleine Geschichten aus der Tiefe des Herzens und der Seele, vorgetragen mit der Pose des lachenden Melancholikers.

So weit, so schwärmerisch. Spätestens seitdem in Paris aber das konservative Kabinett unter Jean-Pierre Raffarin regiert, spielen die Hurlements auch eine entschiedene politische Melodie. Denn die staatliche Förderung für Künstler ist inzwischen überhaupt nicht mehr natürlich, Förderprogramme wurden gekürzt und den Künstlern ihre Arbeitslosenhilfe für die Zeit zwischen den Tourneen gestrichen. Frankreich war neben Schweden bis dato das einzige europäische Land, in dem es diese musische Übergangsfinanzierung gab. Als die französische Linke vor kurzem die Lust am Demonstrieren und Streiken wiederfand, beteiligten sich daher auch die Hurlements: Sie löschten bei Konzerten das Saallicht, verlasen ein Manifest, danach diskutierte der ganze Saal über die Reformen der konservativen Regierung. „Vorher dachte ich ja, das würde nicht funktionieren“, gibt Benoit Chesnel später zu. Hat es aber, der Saal hatte sich nicht merklich geleert.

Unwahrscheinlich ist allerdings, dass ihre Initiative Raffarins Agenda verändern kann. Dass die herzlos und völlig verfehlt ist – zu diesem Schluss muss jeder kommen, der die Léos musizieren hört. Essen und Unterbringung möchte man ihnen bereits nach dem ersten Lied stellen. Nach dem zweiten zahlt man für zehn Jahre im Voraus das Überbrückungsgeld, damit es die Hurlements auch weiter außerhalb der Gassen Bordeauxs zu hören gibt. Und nach dem dritten Lied ist die Welt endgültig für einen Abend eine schönere. Eine französischere.

Mo, 28. 2., 21 Uhr, Fabrik