Nach zwei Jahren Knast wieder frei

Die israelische Regierung entlässt 500 palästinensische Gefangene. 400 weitere sollen bis Ende Mai folgen. Die meisten von ihnen sind Aktivisten der „Al-Aksa-Intifada“. Angehörige und Freunde begrüßen die Freigelassenen am Grenzübergang

AUS TULKAREM SUSANNE KNAUL

Issam Rattas Qaadan kann die Aufregung nicht verbergen. Sein Sohn Urwa wird aus dem Gefängnis entlassen. Seit gut zwei Jahren haben sich die beiden nicht mehr gesehen. Issam zündet eine Zigarette nach der anderen an und bittet einen Freund, seinen Rollstuhl mal hier- , mal dorthin zu schieben, damit er sich selbst davon überzeugen kann, dass die Busse mit den palästinensischen Gefangenen noch nicht angekommen sind. Insgesamt stehen 500 Männer auf der Liste derer, die gestern in der ersten Phase der zwischen Israel und den Palästinensern vereinbarten Amnestie entlassen werden. 400 weitere Häftlinge, darunter auch Frauen, sollen bis spätestens Ende Mai auf freien Fuß kommen. Eine bilaterale Kommission verhandelt derzeit über die Namenslisten.

Den Palästinensern reicht die Zahl von nur 900 Inhaftierten nicht aus, und auch Issams Freude wird getrübt, „weil noch so viele hinter Gittern bleiben“. Natürlich könne es Frieden geben, meint er. „Dies ist mein Land, aber mit 1948 (Großpalästina) ist es vorbei.“ Doch wenigstens „hierher“, nach Tulkarem, sollten die Soldaten nicht mehr kommen. Vor gut zehn Jahren stürzte Issam von einer Mauer, seither ist er gelähmt. Die dunkle Sonnenbrille lässt die aparten grauen Haare und den Bart des Endfünfzigers verstärkt zur Geltung kommen. An der Seite des Rollstuhls hat er eine etwa zwei Quadratmeter große palästinensische Flagge montiert.

Ein paar hundert Menschen haben sich am Grenzübergang bei Tulkarem versammelt, einem der fünf Punkte, an denen die Häftlinge in die Freiheit entlassen werden. Die Familienangehörigen drängeln näher, als der erste Bus sichtbar wird. Sie rufen, pfeifen und schwenken die mitgebrachten Flaggen. Die Gefangenen halten zunächst beinahe schüchtern die Hand mit dem Siegeszeichen aus den Fenstern, bis sich schließlich die Türen öffnen und einer nach dem anderen herausspringt.

Israels Bedingung für die Amnestie war, dass die Verurteilten mindestens die Hälfte ihrer Haftzeit verbüßt haben. Rund zwei Drittel der Entlassenen wären ohnehin in den kommenden Wochen freigekommen. Zudem durften die Männer „kein Blut an den Händen“ haben, so die offizielle Klausel. Allerdings waren einige für versuchte Schuss- und Sprengstoffübergriffe gegen Soldaten verurteilt worden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind alle Entlassenen Aktivisten der „Al-Aksa-Intifada“ und wurden nach September 2000 verhaftet. Noch am Sonntag hatte eine Gruppe israelischer Terroropfer und deren Angehörige vor dem Obersten Gerichtshof in Jerusalem Einspruch gegen die Amnestie erhoben.

Urwa kommt erst mit dem letzten Bus. Er sitzt auf der hinteren Bank und winkt seinem Vater durch das Fenster zu. „Wo ist Mutter?“, ruft er. Zu Hause, erklärt Issam. „Sie kocht. Es gibt Mansaf“, ein palästinensisches Gericht aus Reis, Fleisch und Joghurt. Urwa war vor knapp zwei Jahren zu einer Haftstrafe von 42 Monaten verurteilt worden, weil er Steine auf Soldaten geworfen hatte. Damals war er gerade 15 Jahre alt, aber „er hat im Gefängnis fleißig gelernt“, sagt sein Vater, der ihn nun auf die Universität nach Nablus schicken will.

Als Urwa endlich aus dem Bus steigt, nimmt ihn Issam kurz in den Arm und rollt dann, von den eigenen Gefühlen überwältigt, rasch zur Seite. Die Häftlinge steigen noch einmal in den Bus, um über die Kontrollanlage gebracht zu werden. Auf der anderen Seite warten Urwas Freunde. Zehn Halbwüchsige, die ihn mit „Allah ist groß“-Rufen in Empfang nehmen und vor Freude fast erdrücken. Sie schieben sich meterweit mit ihm durch die Menge, bis ihn sein Onkel schließlich in ein Taxi steckt, das ihn nach Hause bringt. Dort wartet seine Mutter auf der Treppe und drei Männer halten ein Schaf, das sie vor Urwas Augen zu seinen Ehren schlachten.

Erschöpft lässt sich der Junge auf ein Sofa fallen, wo sich schon wieder zahllose Männer um ihn versammeln, während Issam seine Frau dazu anhält, Kaffee und Tee zu bringen. „Natürlich wollen wir Frieden“, meint Urwa, der sich am Morgen schriftlich dazu verpflichten musste, künftig von Gewaltakten abzusehen. „Aber wenn die Soldaten hierher kommen, dann würde ich wieder Steine auf sie werfen.“