Barrikade aus Müll

Mutter war ein Messie: Das Gorki Theater führte seinen DDR-Countdown mit einem Text von Einar Schleef fort

Halbzeit bei „Glaube II“, dem rückläufigen Countdown der DDR-Literatur am Gorki Theater. Für das Jahr 1970 geht Einar Schleef ins Rennen, ein Findling der DDR-Literatur, vom bundesdeutschen Literaturbetrieb nur mühsam beiseite geräumt. 1944 in Sangerhausen geboren, Autor, Maler, Theatermacher, Stotterer. 1976 aus der DDR weggegangen.

Der Text, aus dem im Gorki Studio gelesen wurde, beschreibt einen Besuch bei der verwitweten und verwahrlosten Mutter in Sangerhausen. In eine deutsche Kleinstadt kommt man nicht ungestraft zurück. Der Vater ist erstickt, das Haus versinkt im Müll, die Installationen verrotten, überall liegen verfaulte Äpfel. Die Mutter ist ein garstiges Kind geworden, verdreckt und beleidigend. Während Schleef Müllsäcke füllt, wird er abwechselnd angekeift – „Die Äpfel brauch ich noch!“ – oder angefleht, doch mit ihr auf der Matratze zu schlafen und nicht im anderen Zimmer. Durchdringend gesprochen von Ursula Karrusseit, vom Publikum abgewandt im Sessel sitzend, sodass man an „Psycho“ denken muss und jedes Mal zusammenzuckt.

Wenn man als Autor einen Tritt braucht, der einen ein Leben lang antreibt, unabhängig von Ruhm und Erfolg, Schleef hat ihn bekommen. Mit so einer Tonspur im Hinterkopf findet man keinen Frieden. Sofern man ihm glaubt. Denn im Grunde ist es ja auch eine subtile Form von Rache, seine Mutter so hilflos und abstoßend darzustellen, dass man sich fragt, ob er eigentlich aus der DDR geflohen ist oder aus dem Dunstkreis seiner Mutter. Steckt mehr dahinter als das private Problem, die Körper der Erzeuger zu entsorgen? Handelt es sich um einen DDR-Text, einen deutschen, oder einfach nur einen Text?

Schleef hat vor seiner Ausreise noch einmal Sangerhausen fotografiert, die Bilder werden als Bühnenbild projiziert und zeigen eine thüringische Kleinstadt im Windschatten der Moderne. Kaum Autos auf den Straßen, dafür Kinder mit dicken Brillen und kurzen Hosen, alte Witwen, die um die Backsteinmauern biegen. Stadtlandschaften, die inzwischen wegsaniert sein dürften, aber haben sich die Menschen darin geändert? Kann man das Messietum der Mutter als „widerspenstige Bindung an die Heimat“ deuten? Die DDR, ein verrottendes Haus, dessen letzte Bewohner sich misstrauisch hinter ihrem Müll verbarrikadieren in der Angst, von ihren Kindern eines Tages entsorgt zu werden?

JOCHEN SCHMIDT