Markttag nach uralten Mustern

Gold, Getreide und Sklaven strömten im mittelalterlichen Handelsverkehr von Djenné aus und wurden getauscht gegen Datteln aus Nordafrika, ledergebundene Bücher und Sahara-Steinsalz aus Terhazza. Ein Markttag heute im malischen Djenné

von HAUKE OLAF NAGEL

Das Allahu-akbar schwebt blechern über der Stadt, senkt sich in das Gewirr der Gassen, durchdringt Mauern, kriecht in die Häuser hinein. Die antiquierten Lautsprecher, eingemauert in die Fassade der großen Moschee, haben schon bessere Tage gesehen. Unbeirrbar jedoch ermahnt der Ruf des Muezzin die Gläubigen, im Dienste Allahs ihr Tagwerk zu beginnen. Herdfeuer werden angefacht, der Staub des vergangenen Tages aus den Häusern gekehrt. Geschäftiges Treiben bald allerwegen, denn heute ist Montag – Markttag in Djenné.

Schon weit vor der Stadt strömen aus allen Himmelsrichtungen die Frauen herbei, säumen die Straßen wie Perlen an unsichtbarer Schnur, die Waren aufgetürmt auf ihren Köpfen. Manche sind stundenlang unterwegs, zu Fuß, irgendwoher aus der Weite des Sahel, dessen Horizont auch heute hinter flimmernder Luft verborgen bleibt. Noch aber ist es kühl im Schatten der Moschee, und die Verkaufsstände werden hergerichtet, Matten und Waren ausgebreitet. Die endlose Karawane von Menschen, Eselskarren und Pritschenwagen aus kolonialer Zeit, abenteuerlich vollgestopft mit Großfamilie und Waren, ergießt sich auf den großen Platz. Gelächter, ausgelassene Wortgefechte, hier und da Streit um den lukrativsten Standort.

Der kleinste Flecken aber ist noch groß genug, das Angebot zu präsentieren: vielfältige Waren des alltäglichen Bedarfs, Lebensmittel, Haushaltsgüter, Textilien und Kleidung – sinnvoll und notwendig, dennoch nur ein Abglanz vergangener Epochen. Gold, Getreide und Sklaven strömten im mittelalterlichen Handelsverkehr von Djenné aus in die Partnerstadt Timbuktu und wurden getauscht gegen Datteln aus Nordafrika, ledergebundene Bücher und Sahara-Steinsalz aus Terhazza. Von Süden her schleppten die Karawanen ohne Unterlass Elfenbein, Kolanüsse, Karitébutter, Indigo und edle Gewürze in die überquellenden Magazine.

„Unsere Vorfahren unterhielten Handelsverbindungen bis nach Arabien und mit den Zentren des Goldbergbaus in der heutigen Côte d’Ivoire“, berichtet Ibrahim Cissé, Grundschullehrer, nebenbei noch Perlenhändler und Stadtchronist. „Von der früheren Blüte zeugen jetzt aber nur noch die Fassaden der alten Patrizierhäuser – und der Stolz in den Gesichtern der heutigen Dschenninke.“

Im labyrinthischen Al Gasba, dem ältesten Stadtviertel östlich der Moschee, findet man sie, die Wohn- und Handelshäuser der Händler und Handwerker aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Kaum Sonnenlicht hier, sondern angenehme Kühle in den Gassen, die so eng sind, dass man, in der Mitte stehend, die Lehmfassaden links und rechts mit ausgestreckten Armen mühelos berühren kann. Unversehens treten sie auseinander, münden in kleine Plätze, akribisch sauber gefegt und von dichtem Laub sattgrüner Bäume beschattet: Inseln der Ruhe fernab vom allzu menschlichen Gewimmel des Marktes. Vis-à- vis ein mehrgeschossiger Bau mit Flachdach und prächtig gestalteten Fronten, dessen vertikale Stützen als Fassadendekor hervortreten und sich oberhalb der Dachlinie als kunstvoll gemauerte Lehmzinnen gen Himmel recken.

„Niemand weiß genau, wie sich die Djenné-Architektur entwickelt hat“, erläutert Ibrahim. „Manche vermuten ägyptische Stilelemente, von Songhay-Emigranten aus dem Nilgebiet an den Niger gebracht. Andere glauben an spanische oder marokkanische Einflüsse aus der Zeit mittelalterlicher Handelsblüte.“ Das mit feinen Ornamenten aus Silberblech beschlagene Holztor in der Windfangnische ist offen. Im Halbschatten sitzt Moussa, ein Songhay-Junge im hellblauen Boubou, auf einer geflochtenen Bastmatte und überträgt mit Feder und schwarzer Tinte Koransuren säuberlich auf eine Holztafel. „Der Klassenprimus, ein zukünftiger Marabu von Djenné!“, schmunzelt Ibrahim. „Er fertigt Korantafeln an für die jüngeren Koranschüler. Die Suren werden dann auswendig gelernt, obwohl die Kleinen ihre Botschaft kaum verstehen.“

Moussas Koranschule befindet sich im Quartier Youboukaina. Streng voneinander getrennt werden Mädchen und Jungen vier Stunden lang täglich im Schreiben und Lesen der heiligen Schriften unterwiesen. Stolz demonstriert Moussa seine Arabischkenntnisse und kalligrafiert, mit feingliedrigen Fingern, die Schriftzeichen in Vollendung. Er wirkt, im Alter von kaum zwölf Jahren, unnahbar, fast ein wenig weltentrückt. Ibrahim errät meine Gedanken: „Djenné ist Zentrum islamischer Gelehrsamkeit in Mali. Überall spürt man diese unbedingte Hingabe an den Geist Mohammeds, eine Tiefe des Glaubens, die, wenn überhaupt, nur noch von den Koranschülern Timbuktus übertroffen wird.“ Ibrahim, selbst gläubiger Muslim und staatlich angestellter Grundschullehrer, ist darüber nicht glücklich. „Nach einigen Jahren können die Kinder die wichtigsten Suren in ausgezeichnetem Arabisch rezitieren. Über Ökonomie, Landwirtschaft oder Politik wissen sie aber fast nichts“.

Um die Mittagsstunde hat das merkantile Volksfest auf dem Platz vor der Moschee seinen Höhepunkt erreicht. Zwischen den Ständen tummeln sich an die 20.000 Menschen. Bozo-Fischer von den Ufern des Niger, Dogon-Bäuerinnen aus Bankass, Fulani- und Bambara-Frauen aus Ségou in traditionellem Gewand, stolze Songhay aus Timbuktu. Jeder verkauft das, was seine Vorfahren schon seit jeher verkauft haben: Zwiebelgemüse, Kolbenhirse, Räucher- und Trockenfisch, Tongefäße und Kalebassen in jeder erdenklichen Form und Größe, Erdnüsse, Baumwolle, roter Pfeffer, Akazienschoten, Webdecken, Salz in Quadern, Tee, Gewürze, Hammelfleisch und Melonen.

Die kolossale Moschee im Hintergrund macht alles Menschliche ameisenhaft. Ganz aus Lehm gemauert, wie eine von Giganten im Spiel errichtete Sandburg, scheint Allahs Zitadelle dem sandigen Erdboden zu entwachsen. Größtes sakrales Lehmgebäude der Welt, länger als ein Fußballfeld und bis zu den Zinnen fast 30 Meter hoch, Wartesaal auf der Reise ins Paradies, wenn sich jeden Freitag 5.000 Gläubige zum Gebet versammeln. Drei Minarett-Türme ragen empor, auf deren Spitzen Straußeneier – als edler Zierrat und Abwehrzauber gegen böse Mächte – in der Sonne leuchten. Aus der Lateritfassade stechen zahllose Holzbalkenbündel hervor, sudanische Dekorationselemente, Teile des Innengerüsts – und Trittstufen für die alljährliche recrépissage, die Ausbesserungsarbeit am Ende der dreimonatigen Regenzeit. Banco heißt der Erdenstoff, aus dem das Gotteshaus, die ganze Stadt zurechtgebaut ist, eine Rezeptur aus Lehm, Wasser, Hirsespreu und Kuhmist, deren exaktes Mischungsverhältnis seit Jahrhunderten nur innerhalb der Maurergilde an die Nachgeborenen weitergereicht wird. Dabei ist nicht der Banco das große Geheimnis, auch nicht die besonderen statischen Berechnungen, die ein Lehmbau erfordert.

Die Dschenninke-Baumeister hüten ein ganz anderes Wissen, das im Sahel-Sudan einer zweiten wirklichen Welt neben der sichtbaren entstammt: Es ist die fundamentale Kenntnis jener Kräfte, die bestimmte Ziegel an bestimmten Positionen zu magischen Schutzsteinen werden lassen. Zu Abwehrschilden gegen irdische Vergänglichkeit, Einsturz und Überschwemmungen. Durch Gebete, Beschwörungen und Opfergaben, deren Kosmos vor dem Uneingeweihten für immer zu verbergen ist. Undenkbar, dass ein Fremder diese Kenntnisse erwirbt. Und wer sie verrät, fällt auf der Stelle tot um. „Im ausgehenden 13. Jahrhundert, als die Stadt noch animistische Bastion im islamisch geprägten Umland war, wollten die Dschenninke eine feste Stadtmauer bauen, was aber immer wieder misslang. Es heißt, man hätte sich nach Befragung der Götter entschlossen, ein Bozofischermädchen lebendig in die Befestigung einzumauern“, berichtet Boubarcar Maiga, dessen Großvater ein berühmter Banco-Baumeister gewesen ist. „Seitdem wird bei jeder Grundsteinlegung ein Tieropfer dargebracht. So halten unsere Häuser ewig.“

Das Vertrauen der Dschenninke in die metaphysische Baukunst ihrer Vorväter war keineswegs immer gerechtfertigt. Ende der 1980er-Jahre drohten ganze Stadtteile Djennés zu Staub zu zerbröseln. Starke Regenfälle und extreme Trockenheit hatten bereits über ein Drittel der historischen Bausubstanz vernichtet, als Djenné 1988 auf die Unesco-Liste des geschützten Weltkulturerbes gesetzt wurde. Mit heute 700.000 Euro im Gepäck rückten holländische Spezialisten an und restaurierten zwischen 1996 und 2000 die meisten der fast zweihundert beschädigten Häuser. Dabei gingen die Völkerkundler aus Leiden und Rotterdam synergetisch vor und verstanden sich als Mitwirkende an einer gleichberechtigten Allianz aus europäischen Wissenschaftlern und einheimischen Banco-Baumeistern. Mit Erfolg: Heute sind die Spuren des Verfalls getilgt, die Häuser halten wieder – für die nächste Ewigkeit.

Die Dämmerung bricht herein und der Muezzin ermahnt zum vierten Gebet. Der Markt geht zu Ende. Zurück nach Hause! Im Scheinwerferlicht am Straßenrand die bunten Kleider der Frauen. Irgendwann verlassen sie ohne Wegweiser den Asphalt. Ihr Heimweg führt sie in die Dornensavanne, auf uralte Pfade in der Lateriterde Afrikas, zu ihren Hütten und Dörfern.