Eher preußisch als links

Gerechtigkeit ist das Ziel von Gabriele Gillen. Deshalb kritisiert sie „Hartz IV“ parteiisch, sachkundig – und konservativer, als sie denkt

Gabriele Gillen ist parteiisch und polemisch. Sie hat einen eindeutigen Standpunkt und ein klares politisches Ziel. Das zeigt ihre politische Streitschrift über Hartz IV. Die Autorin beschränkt sich darin nicht darauf, die Arbeitsmarktreform der informellen großen Koalition einfach abzulehnen, es geht ihr auch nicht nur um die Details dieser problematischen Reform, deren Wirkung sie mit großer Sachkenntnis beschreibt.

Ihr politisches Ziel ist die Verteidigung der sozialen Demokratie: „Der öffentliche Reichtum an kommunalen und nationalen Einrichtungen, die im unteren Bereich egalitäre Verteilung der Lebensrisiken Krankheit und Alter – das sind keine ‚Wohltaten‘ […], kein Schutzgeld, damit die Armen nicht den Reichen die Kehle durchschneiden, sondern die Verwirklichung des durchaus bürgerlichen Gedankens, dass die Nation eine Arbeitsgemeinschaft ist, dass der öffentliche Reichtum für alle die Macht der wenigen ausbalanciert.“

Aus diesem Staats- und Gesellschaftsverständnis schöpft die Autorin ihre Kraft. Es ist allerdings sehr viel konservativer, als sie wahrscheinlich selber vermutet. Von den liberalen Ideen der 80er- und 90er-Jahre, von Zivilgesellschaft oder bürgerschaftlichen Engagements, findet man bei ihr nichts. Kein Wunder, haben diese Begriffe doch ihre Kompatibilität mit neoliberalen Gesellschaftsentwürfen bewiesen. Mit ihnen ließe sich die Transformation des Wohlfahrtsstaats in eine altliberale Armenfürsorge problemlos bewältigen. Vom ursprünglich emanzipatorischen Charakter dieser Debatten ist nicht viel mehr übrig geblieben, als in den Reden der grünen Fraktionsvorsitzenden Karin Göring-Eckart zu finden ist. Also fast nichts.

Hier wird eine Leerstelle in der gesellschaftspolitischen Debatte deutlich. Eine Gabriele Gillen gilt heute als links – und das mit einem Staatsverständnis, das man ohne Polemik durchaus preußisch nennen kann. Davon ist heute, wo sich der Staat wirtschafts- und sozialpolitisch auf dem Rückzug befindet, nur noch selten etwas zu hören. Es dominieren liberale Ideen wie Zivilgesellschaft oder bürgerschaftliches Engagement.

Für Gillen jedoch ist der Rückzug des Staates gleichbedeutend mit der Transformation des Wohlfahrtsstaates in eine altliberale Armenfürsorge. Im politischen Diskurs haben sich sowohl die Sozialdemokraten als auch die Konservativen von der Nation als Arbeitsgemeinschaft verabschiedet. Der Staat ist nach Ansicht der Autorin heimatlos geworden. Die Politik als Akteur simuliert nur noch den Staat und reduziert sich darauf, reiner Handlungsgehilfe mächtiger Interessengruppen zu sein.

Die Folge ist der gesellschaftliche Verfall und die Zunahme sozialer Konflikte. Der Staat verliert seine Funktion, diese Konflikte zu begrenzen. Damit thematisiert sie eine Leerstelle in der gesellschaftspolitischen Debatte: Man kann tatsächlich Zweifel daran haben, ob die Zivilgesellschaft die pazifizierende Funktion des Staates ersetzen kann.

Die einzelnen Maßnahmen der Reformen führen zu einem gesellschaftlichen Zustand, den Soziologen in der Tradition Durkheims als Anomie bezeichnen würden: „Bindungen lohnen sich nicht mehr.“ Mit diesem durchaus brutalen Satz beschreibt Gillen ihre Befürchtungen. Die Nation zerfällt in Arme und Reiche, in die Agonie bindungsloser Individuen. Das ist der Kern ihrer Kritik.

Ihre Ortsbesichtigungen in den Trümmern gesellschaftlicher Desintegration sind dabei die besten Passagen des Buches. Das betrifft nicht nur ihre Polemik gegen die höheren Stände in Wirtschaft, Politik und Medien, sondern vor allem ihre einfühlsamen Porträts, mit denen sie anschaulich zeigt, was Armut wirklich heißt.

Es handelt sich eben nicht nur um jene verwahrlosten Milieus, die etwa der Historiker Paul Nolte moralisierend als „Trinker, Raucher und Lottospieler“ charakterisiert. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse können heute fast jeden treffen. Soziale Unsicherheit und die Angst vor dem sozialen Abstieg prägen zunehmend die Lebensverhältnisse in diesem Land. Was das eigentlich bedeutet, wird in diesem Buch deutlich.

Weniger deutlich werden aber die Gründe für diese Entwicklung. Ihr Konservativismus ist dabei das Problem – und nicht nur ihr Problem. Sie steht dabei durchaus für viele Linke, die aus guten Gründen mit dieser Politik nichts anfangen können. Dafür nur ein Beispiel: So ist der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich wenig egalitär und hat traditionell nur geringe Umverteilungswirkungen. Menschen mit geringem Einkommen und niedrigem sozialem Status wurden schon immer relativ schlecht behandelt.

Gabriele Gillen verteidigt jedoch den Status quo genauso besinnungslos, wie manche Reformer reformieren. Das Problem der alten Arbeitsmarktpolitik ist jedoch: Nur weil sie Wolfgang Clement für gescheitert hält, muss sie ja kein Erfolgsmodell gewesen sein. Darüber liest man aber bei Gillen nichts. Genauso wenig können manche ihrer ökonomischen Analysen überzeugen – etwa das Märchen von den Grenzen des Wachstums und ihr Lob des ökonomischen Stillstands. Aber das mindert nicht die Qualität des Buches.

Gillens „Abrechnung“ ist ein Pamphlet im besten Sinne des Wortes. Es beschreibt als Momentaufnahme die geistige Verfassung der Republik und ist mit Herzblut geschrieben. Gerechtigkeit steht auf ihrem Panier. Gibt es ein besseres Ziel? FRANK LÜBBERDING

Gabriele Gillen: „Hartz IV. Eine Abrechnung“. Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2004, 256 Seiten, 7,90 Euro