Ein chronischer Heiliger

Der schlechte Gesundheitszustand von Johannes Paul II. könnte die katholische Kirche wegen einer theologischen Gesetzeslücke in echte Schwierigkeiten bringen. Aber ein Papst geht nicht in Pension

von ARNO FRANK

„Und als ich manchen dort erkennen konnte, sah und erkannte ich den Schatten dessen, der feig die große Weigerung begangen.“ (Dante, „Göttliche Komödie“)

Dem Chef geht es gar nicht gut. Seine Hände zittern, er geht gebeugt, spricht undeutlich, verarmt und wächsern wirkt seine Mimik. Und er sabbert. Wäre Karol Woytiła Vorstandsvorsitzender eines x-beliebigen Unternehmens, seine Berater hätten den 84-Jährigen längst aufs Altenteil geschickt, in ein masurisches Kloster vielleicht, wo er in Ruhe Rosen züchten oder Rosenkränze beten könnte.

Aber Karol Woytiła ist der Nachfolger der Apostelfürsten, Bischof von Rom, Primas von Italien, Erzbischof und Metropolit der römischen Kirchenprovinz, Patriarch des Abendlandes, Knecht der Knechte Gottes, oberster Brückenbauer („Pontifex maximus“), Oberhaupt der katholischen Kirche – und damit sozusagen Chef eines metaphysischen Versicherungskonzerns vor dem Herrn, der ältesten Firma aller Zeiten.

So einer tritt nicht zurück, er tritt höchstens ab. Auf entsprechende Fragen reagierte der Stellvertreter Christi auf Erden, wie es sich für einen Stellvertreter Christi auf Erden geziemt: „Auch Jesus ist nicht vom Kreuz gestiegen“, einen „emeritierten Papst“ könne er sich nicht vorstellen, die Dauer seines Pontifikats überlasse er ganz dem Ratschluss Gottes. Überdies verlange der himmlische Aufsichtsratsvorsitzende von seinen menschlichen Mitarbeitern „keinerlei Anstrengungen, die ihre Kräfte übersteigen“.

Ein theologischer Dreh, der dem öffentlichen Siechtum des Greises die Würde eines Schmerzensmannes verleihen und die Frage obsolet machen soll, ob der Papst seinen Job noch machen kann – das Leiden selbst ist sein Job. Überlebt hat dieser Papst schon allerhand, sogar die Kugeln eines Attentäters. Die Schluck- und Atembeschwerden allerdings, gegen die er nun in einer römischen Klinik behandelt wird, sind klassische Symptome der parkinsonschen Krankheit im Endstadium.

Mit Kardinal-Staatssekretär Angelo Sodano hat sich am Montag sogar der zweitmächtigste Mann im Vatikan zur Frage geäußert, ob Johannes Paul II. die Hypothese eines Rücktritts erwäge: „Das überlassen wir dem Gewissen des Papstes.“ Neu ist nicht, was Sodano gesagt hat, sondern dass er das Tabu überhaupt angesprochen hat.

Laut kanonischem Recht ist ein päpstlicher Amtsverzicht durchaus denkbar. In Artikel 332 des Codex Iuris Canonici heißt es: „Wenn es geschieht, dass der Papst seinem Amt entsagt, ist zur Gültigkeit erforderlich, dass der Rücktritt freiwillig geschieht und in aller Form angezeigt wird, nicht aber, dass er von irgendjemandem angenommen wird.“

Wenn nun aber der Papst monatelang im Koma und nicht mehr in der Lage wäre, seinen Amtsverzicht „in aller Form“ zu artikulieren – dann hätte es der Vatikan mit einem echten Problem zu tun. Mit einer kirchenrechtlichen Gesetzeslücke nämlich, die zu einer „völligen Behinderung des römischen Bischofsstuhls“ führen könnte, wie der Kardinal und Kirchenrechtler Mario Francesco Pompedda gestern warnte.

Im 20. Jahrhundert sollen Paul VI. und Johannes XXIII. an einen Amtsverzicht gedacht haben, Pius XII. plante angeblich seinen Rücktritt für den Fall einer Entführung durch die Nazis. Verbürgt ist, dass der Heilige Stuhl in zwei Jahrtausenden nur ein einziges Mal freiwillig geräumt wurde – von Coelestin V. vor 710 Jahren. Vom vatikanischen Intrigantenstadl des Jahres 1294 hatte der fromme Mann nach fünf Monaten genug. Er wurde von seinem Nachfolger weggesperrt, von der Nachwelt heilig gesprochen – und vergessen.

„Ich muss gesund werden, weil es keinen Platz für pensionierte Päpste gibt“, scherzte Johannes Paul II. noch 2002 – und irrte, denn diesen Platz gibt es sehr wohl. Der Dichter Dante Alighieri beschreibt in seiner „Göttlichen Komödie“ sogar genau, wo er dem Expapst begegnete: Es war die Hölle.