Ein Bauer greift zum Wanderstab

„Die Verbraucher sind das Nadelöhr. Die lassen die Bauern im Stich und laufen zu den Billigmärkten“

AUS KELLA HEIDE PLATEN

Diesig ist es, dämmrig und eiskalt. Die Gemeinde Kella, ein Häuserhaufen zwischen Hügeln im Eichsfeld, einst Grenzort in der damaligen DDR, hat keine 600 Einwohner. Die Straßen sind leer bis auf diesen seltsamen einsamen Mann, ein Wanderer im Winter. Georg Lutz, 47 Jahre alt, stapft die Landstraße entlang auf das Dorf zwischen den Bergen zu, das er seit über einer Stunde schon sehen kann. Auf dem Rücken schleppt er einen schweren grünen Rucksack. Die beiden Wanderstäbe knirschen im Sand, die Schuhe sind feucht geworden, an die Blasen an den Füßen hat er sich gewöhnt. Im Wirtshaus „Zum Löwen“ schält er sich aus Anorak und Pullover. Der Schweißgeruch hängt minutenlang im Raum.

Lutz wandert seit der zweiten Januarwoche durch Deutschland. Er marschiert für eine Sache, die er zu seiner eigenen gemacht hat. Die Botschaft hat er sich auf den Rucksack geklebt. Das Strichgesicht einer roten Tomate auf gelbem Grund ist sein Programm: „Gen-Food – Nein danke.“ Sechs Wochen lang läuft er von seinem Heimatort Ahrensburg bei Hamburg in Richtung Bodensee. Unangemeldet steht er vor den Höfen seiner Berufskollegen. Er will mit ihnen über die Gefahren und Risiken des Anbaus genveränderter Pflanzen reden, will aufklären und überzeugen.

Georg Lutz ist Bauer, fast zwei Meter groß, kräftig und doch fast schlaksig. Manchmal geht er gebeugt. Seit dem Vormittag ist er südlich gewandert, von Lutter nach Kella. Bis zur Dunkelheit will er weitergehen, bergab bis hinter das mittelhessische Städtchen Eschwege. Das Waterloo seiner Wanderung hätte er fast am Vorabend erlebt – keine Bleibe. Der Ausruf „Das ist hier das Allerletzte!“ ist ihm am Telefon so rausgerutscht. Eigentlich wollte er es netter sagen. Denn er versteht die Menschen, die ihm erst einmal misstrauisch begegnen.

Er hatte an die Tore einer der letzten großen landwirtschaftlichen Genossenschaften der Region geklopft: „Aber da waren nur noch zwei Arbeiter.“ Und die haben ihn fortgeschickt, sich nicht getraut, ihm Essen und Unterkunft für die Nacht anzubieten. Frustriert ist er durch die Gegend geschlichen, zweimal vorbei am Friseurladen, hat sich für eine kurze Weile selber nichts mehr zugetraut. Untergekommen ist er dann doch noch, ist, nach anfänglichem Bedenken, durch ein Hoftor gegangen. Und hat sein Tagesziel erreicht: Herberge bei einem Landwirt, einem Nebenerwerbsbauern: „Da waren sogar noch ein paar Kühe und Kälbchen.“ Der spätabendliche Besucher wurde nach anfänglicher Verwunderung gut aufgenommen, durfte seine nassen Sachen auf der Heizung trocknen und im Haus schlafen. Und er konnte fachsimpeln über Milchvieh und Kälberzucht. Von Kühen versteht er was. Und schon war er wieder obenauf. Der Hofbesitzer stellte sich als Experte heraus, hatte früher die LPG geleitet. „Da haben mich die Götter hingeschickt“, staunt er. Und der Ort habe eine wunderbare Quelle, „ganz verwunschen“, bis in den Schlaf hat er das Wasser rauschen hören.

Am nächsten Tag hat er erst einmal ausgeschlafen, ehe er die Wanderstöcke gen Kella richtete. Die Stöcke entlasten die Füße und bieten Halt bei Sturmböen: „Bei meiner Größe biete ich viel Angriffsfläche.“ Im Frühjahr oder gar im Sommer hätte er die Tour nicht machen wollen. Zum einen wäre ihm das zu einfach gewesen, gutes Wetter, Obst, „ein paar Äppel und dit und dat“ am Wegesrand, „ein Spaziergang“. Das ist nicht sein Ding. Und zum anderen sei er eben ein Anthroposoph mit Sinn fürs Reale. Im Winter haben die Berufskollegen viel Zeit. Und er auch.

Georg Lutz löffelt im Gasthaus „Zum Löwen“ eine kräftige Mahlzeit. Gulasch mit Nudeln, „viel Nudeln, wenig Fleisch“, hat er bestellt. Er muss sich einladen lassen, denn er hat eine weitere Schwierigkeit eingebaut. Er reist ohne Geld. Und sammelt unterwegs auch noch für die Rückfahrkarte. Das ist schwer genug, aber manchmal, gesteht er, macht er sich das Gepäck etwas leichter, füllt den Wasservorrat nicht völlig auf. Dann bittet er unterwegs um Getränke. „Und auch das ergibt zwangsweise Gespräche.“ Am liebsten kommt er am frühen Abend auf die Höfe. Dann sind die Landwirte zum Melken im Kuhstall. Und wenn er dann dasteht im Tor, wirke er im Gegenlicht „als große dunkle Gestalt erst mal etwas unheimlich“. Im Stall aber schaffe er schnell Vertrauen, wenn er „ein büschen die Tiere anguckt“, die Kühe begutachtet und seine potenziellen Gastgeber merken: Da versteht der was von!

Lutz ist Biobauer und bewirtschaftet in Ahrensburg als Pächter das 400 Hektar große Staatsgut Wulsdorf. 25 Menschen arbeiten dort. Maxime sei die „Einheit von Arbeit und Leben“. Lutz baut Getreide, Kartoffeln und Futterpflanzen an, hält Fleischrinder, Milchkühe, einige Schweine, Schafe, Geflügel. Zum Hof gehören eine Metzgerei, eine Bäckerei und der Hofladen. Per Handy hält Lutz Kontakt zu seiner Frau und den vier Kindern, die seine Wanderung auf der Karte verfolgen. Außerdem schreibt er täglich einen Brief und, nicht ganz so pünktlich, seine Tagesberichte.

Lutz wollte schon als Jugendlicher Bauer werden und den elterlichen Hof übernehmen. Er besuchte nach der mittleren Reife die Fachhochschule, studierte Landwirtschaft und schloss als Diplom-Agraringenieur ab. „Ich war ein richtiger Jungbauer.“ Konservativ bis in die Knochen und Vorsitzender der Landjugendgruppe auch. Aber eigentlich habe er mehr gewollt und viel nachgedacht: „Ich hatte das ewige Alkoholtrinken satt.“ Seine Weltanschauung sei „gekippt“, als er Kontakt zu Anthroposophen und Grünen bekam und anfing, über den Zusammenhang zwischen Welthunger und Futtermittelproduktion nachzulesen. „Das hat mich tief berührt.“ Er habe auf dem eigenen Hof gesehen, wie die Natur unter Düngemitteln und Chemie leide: „Es gab immer weniger Fische und Frösche.“ Da habe er sich entschieden: „Ich will nicht gegen die Natur arbeiten.“ Und er habe gesehen, dass die Bauern, reduziert auf die Rolle der Produzenten, vereinsamen: „Du gehst durch die Dörfer und da sind kaum Kinder, keine Tiere auf den Straßen und abends eigentlich nur noch ganz wenig Licht.“ Wo einst fünfzig Landwirte ihr Auskommen fanden, da seien „heute höchstens noch zwei da. Früher war man auf dem Dorf füreinander verantwortlich.“ Eigentlich – fand er schon in den ersten zwei Wochen heraus – will kein Bauer freiwillig den Zwängen der konventionellen Landwirtschaft und der Massenproduktion unterworfen sein. Aber nicht nur die Bauern, sondern auch die Verbraucher seien mitverantwortlich: „Die sind das Nadelöhr. Die lassen die Bauern im Stich und laufen zu den Billigmärkten.“

Die Eltern waren nicht gerade begeistert von den „unausgegorenen Ideen“. Deren Hof hat der Bruder übernommen. Lutz bewirtschaftete stattdessen zusammen mit einem Partner zuerst einen Hof bei Lüneburg. 1989 übernahm er Wulsdorf mit einem Vertrag für 30 Jahre. Durch das neue Gentechnik-Gesetz sieht er nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch den gesamten Bioanbau gefährdet. Durch den Pollenflug auf den Gen-Äckern werden, warnt Lutz, auch die umliegenden Felder, die Nutz- und Wildpflanzen betroffen sein. Der Bioanbau werde dadurch „verpestet“, das Zertifikat „Bio“ sei dahin. Zwar seien die Gen-Bauern bei Schäden der Nachbaräcker zu Schadenersatz verpflichtet, aber das nütze Biobauern nicht, denn: „Dann haben wir nur Nachbarschaftsstreit, aber keine Waren, die wir verkaufen können.“

Die Botschaft kommt bei seinen Gastgebern an. „Manchmal renne ich offene Scheunentore ein.“ Viele hören ihm zwar aufmerksam zu, wissen aber nicht, wie sie ihre Misere ändern können: „Das ist manchmal fast ein bisschen tragisch.“ Lutz’ Kritik richtet sich vor allem an die Spitze der Bauernverbände und an jene Bauern, die ihr Heil aus Existenzangst in der offensiven Expansion sehen, sich dafür verschulden und nicht mehr zurückkönnen. Um künftig Schadenersatzstreitereien zu vermeiden, müssten sich die Bauern in den Regionen zusammensetzen und über die Folgen reden. Für Ahrensburg strebt Lutz eine „gentechnikfreie Zone“ an.

Dieser eher symbolische Versuch sei, sagt er, auch der Auslöser für seinen Marsch gewesen. Er habe sich geärgert, nachts wach gelegen und sich dann gedacht: „Das musst du dir ablaufen!“ Lutz marschiert auch für sich selbst. „Das ist kein Missionsmarsch, ich will niemanden überzeugen.“ Er wolle auf die Menschen zugehen, zuhören, aber auch von seinen eigenen Sorgen erzählen. Das muss einer wie er auch erst lernen. Manchmal wirke er auf Familie und Mitarbeiter stur und abgrenzend. „Das Wichtigste ist die Arbeit“, sagt er, überlegt kurz: „Ich will die Arbeits- als Lebenszeit erleben.“

Dafür setzt er sich die blaue Strickmütze wieder auf, schultert den Rucksack und wandert weiter hinein in den Abend. Eine Bleibe ist noch nicht in Sicht: „Deshalb bin ich ab fünf Uhr immer ein bisschen aufgeregt.“ Seinen Notanker wird er aber – das hat er sich fest vorgenommen – nicht angreifen. Die Geldkarte „steckt ganz tief unten im Rucksack“. Das Angebot, ein Stück weit mit dem Auto mitzukommen, lehnt Georg Lutz fast schroff ab: „Das nun aber auf gar keinen Fall!“