Die Entpuppung der Reporter

Psychisch kranke Menschen aus Geldern produzieren ihre eigene Zeitung: Im „Papillon“ verarbeiten sie Erlebtes zu Geschichten, Psychosen zu Parabeln

„Wenn ich die Parabel aufschreibe statt sie zu leben, ist das gesünder“Nur den Lesern kann er Glauben schenken, wenn sie seine Texte loben

AUS GELDERNLUTZ DEBUS

Papillon, der Schmetterling, war ja zuvor eine Raupe. Und psychisch kranke Menschen? Sind das nicht diejenigen, die, wenn sie denn überhaupt arbeiten, Unkraut zupfen in öffentlichen Gärten? Oder Körbe flechten? Oder Schrauben sortieren und zählen? Am niedersten Niederrhein, in Geldern, entpuppen sie sich zu Journalisten. Ihre Zeitung heißt Papillon life.

Seit 1994 gibt es die „Sozialpsychiatrischen Nachrichten vom unteren Niederrhein“. In einer Auflage von nun 850 Stück wird die Zeitung kostenlos allmonatlich an alle Interessierten versendet. Die acht Seiten füllen hauptsächlich Klientinnen und Klienten des Papillon e.V., eines Vereins zur Rehabilitation psychisch erkrankter Menschen. Insgesamt gibt es zehn Redaktionsmitglieder. In dem Heft stehen Reisereportagen neben Krankengeschichten, Veranstaltungshinweise neben Portraits von Mitarbeitern und Klienten. Die Kosten werden über Vereinsmittel gedeckt. Geschrieben, bearbeitet, gedruckt, verpackt und versandt wird die Zeitung in der Tagesstätte in Geldern und ist so Teil des rehabilitativen Programms dort.

Conny L. (34) ist seit vier Jahren in der Redaktion tätig. Bevor sie das erste Mal in einer psychiatrischen Klinik behandelt wurde, hatte die aus einem kleinen Ort stammende junge Frau die Vorstellung, dass so eine „Ballerburg“ ein Gefängnis sei mit lauter Gummizellen und einem stabilen Wärter in weißem Kittel davor. Auf den ersten Blick sah die Klinik aus wie ein ganz normales Krankenhaus. Rasch nahm sie dann aber gravierende Unterschiede wahr. Insgesamt wertet sie den Aufenthalt dort als hilfreich. Manches aber, was sie dort erlebte, belastete sie sehr.

Und nach der Entlassung sei es, so Conny L., schwer gewesen, sich verstellen und verstecken zu müssen. In ihrer dörflichen Umgebung werde ihre Erkrankung tabuisiert. Man rede mit vorgehaltener Hand über sie, nicht aber mit ihr.

So ist die Mitarbeit in einer Zeitungsredaktion, besonders der monatliche Abdruck ihres Namens im Impressum, für sie mit Genugtuung verbunden. Psychisch Kranke sollten sich nicht verstecken müssen. „Ich bin keine Psychose auf zwei Beinen, ich bin ein Mensch!“

Auch Friedrich H. (34) schreibt für Papillon Life. Seine Krankheitsgeschichte ist nicht typisch für einen Besucher der Tagesstätte. Er litt vor allem an psychosomatischen Symptomen. Panikattacken, Antriebslosigkeit, Magenschmerzen und Herzflimmern haben ihm soweit zugesetzt, dass der gelernte Anstreicher über zwei Jahre nicht arbeiten konnte. Seit anderthalb Jahren besucht er nun regelmäßig die Tagesstätte. Der strukturierte Tagesablauf hilft ihm. Die psychosomatischen Beschwerden treten in den Hintergrund. Die Zeitungsarbeit mache ihm Spaß und sei gesund. Warum gesund? „Von Geburt an war ich schon immer sehr neugierig. Das werde ich bis heute nicht mehr los. Ich wäre gern wie ein Kaugummi an der Schuhsohle, das eine lange Reise antritt.“

Beide Zeitungsmacher hocken nicht nur in ihren Büros vor den PC- Bildschirmen. Spannend sind die Außentermine. Für Conny L. immer auch ein Sprung über den eigenen Schatten. Vor einem Jahr besuchten die beiden das landesweite Treffen von Psychiatriezeitungsredaktionen in Köln. Erleichtert stellten sie fest, dass es gar nicht so absonderlich ist, als psychisch kranker Mensch für eine Zeitung zu schreiben. Auch der „Tag der Begegnung“, eine jährlich stattfindende Veranstaltung im Archäologischen Park in Xanten, bei der sich alle Behindertengruppen aus dem Rheinland präsentieren, war für die beiden Reporter bewegend. Sie interviewten Angelika Rüttgers, die Frau des CDU-Oppositionsführers. „Eine nette Frau,“ bemerkt Friedrich H. mit einem leicht ironischen Unterton. Wirklich begeistert seien die beiden von den Kölner Tatort-Kommissaren gewesen, die dort für den guten Zweck angereist waren. Dietmar Bär quittierte die Bemerkung eines geistig behinderten jungen Mannes, da sei ja „der Kommissar Dickbauch“, mit einem freundlichen Lächeln.

Papillon Life schaffte an diesem Tag etwas, was selbst Profis manchmal Schwierigkeiten macht. Am Abend verteilten die Leute aus Geldern ihre druckfrische Zeitung an die Besucher dieser Sozialmesse, gefüllt mit Berichten vom Tag.

Es gibt auch ernste Themen. Conny L. schrieb über eine Fotoausstellung in einer Bank in Geldern. Diese Ausstellung dokumentierte das Leben eines stadtbekannten Sonderlings, der auffiel, weil er Passanten anschnorrte. Durch die Darstellung seiner Biografie wurde aus dem fremden Irren eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Conny L. identifizierte sich in ihrem Text teilweise mit dem Portraitierten. Auch sie war schon mehrfach in psychiatrischen Kliniken behandelt worden. So sei sie selbst von der Stigmatisierung als so genannte chronisch Kranke bedroht. Beim Schreiben wurde ihr aber klar, welche Kraft trotz aller Widrigkeiten in solch sonderbaren Menschen schlummern.

Die Erfahrungen, die Conny L. während eines Praktikums in einer Werkstatt für behinderte Menschen machte, verarbeitete sie in einer Parabel. Kleine märchenhafte Wesen wurden gezwungen, sinnlose Arbeiten zu verrichten. Eine Revolte scheiterte. Ganz bewusst überschritt die Autorin den formalen Rahmen journalistischen Schreibens. In dem Gleichnis konnte sie ihren Zorn über die herrschenden Verhältnisse besser ausdrücken als in einem sachlichen Bericht. Sie fürchtete so weniger die Reaktion der Werkstatt. Letztlich, so Conny L., sei eine Psychose auch so etwas wie eine Parabel. Wenn sie die Parabel aufschreibe statt sie zu leben, sei dies eben gesünder.

An einem Sommerabend wurde auf dem Marktplatz zu Geldern die Oper Nabucco aufgeführt. Der sonst so angsterfüllte Friedrich H. war fasziniert. Unruhig schlief er in der Nacht. Das vertraute Herzrasen weckte ihn. Doch statt in Panik zu geraten, erinnerte er sich an die Musik, das Bühnenbild. Und plötzlich fand er Worte für das Erlebte. Im Morgengrauen schrieb er seine erste Konzertkritik. Vom Patienten verwandelte er sich zum herzrasenden Reporter. Natürlich sei er „mitteilungsgeil“. Wenn sein Name unter einem gedruckten Artikel stehe, empfinde er Stolz. Seine Mutter habe ihm immer vermittelt, dass er alles könne. Er selbst entgegnete ihr dann immer, dass er nichts könne. Den Lesern, die seine Texte beurteilen, glaube er nun aber. Und da bekomme er viel Lob.

Was bringt die Zukunft? Conny L. ist bescheiden. Ihre Ausbildungen zur Erzieherin und zur Altenpflegerin musste sie abbrechen. Pferdepflege habe sie versucht, hatte dann aber doch zu viel Angst vor den großen Tieren. Eine Umschulung im Bereich Layout konnte sie erfolgreich absolvieren. Gern würde sie Mediengestalterin werden. „Ich kann aber ohne Beruf leben, fühle mich auch jetzt nicht minderwertig.“

Wichtiger als die Karriere sei ihr das Glück. Ein Neurologe habe ihr gesagt, dass eine wie sie nie eine lang andauernde Beziehung führen könne. Der Partner müsse ja immer mit ihr zusammen „Achterbahn fahren“. „In diesem Punkt hat der Arzt sich geirrt.“ Bereits seit über einem Jahr habe sie einen festen Freund. Dabei zwinkert sie Friedrich H. zu. Der pflichtet ihr bei: „Glücklich sein, das ist die Hauptsache.“ Der Verein Papillon sei für ihn zwar keine Sackgasse.

Aber es wird schwer werden, etwas besseres zu finden. Einen konkreten Wunsch äußert er dann doch. Er würde gerne einen Tag lang eine richtige Redaktion besuchen. Presseleute unter professionellen Bedingungen beim Arbeiten über die Schultern schauen können. Das wär schon was.