Von der „Tomte“ zur „Tomate“

Wenn Migrantenkinder nach Bremen kommen, können sie an 17 Grundschulen in Intensivvorkursen ihr erstes Deutsch lernen. Dabei geht es um viel mehr als um Sprache: ums Ankommen in der Fremde. Ein Film dokumentiert die Arbeit in den Kursen

ELASNRMIOT. Je ein Buchstabe auf einem Blatt Papier hängt über der Tafel in der Schule an der Nordstraße. Zusammen in einer Reihe tun sie so, als würden sie was bedeuten. Elasnrmiot. In dem großen Raum hat alles Bedeutung, denn für viele Kinder sind die bunten Wände, die Leseecke, die vielen Sessel oder der Tisch mit den kleinen Stühlen drumherum fremd. Es sind Migrantenkinder, die hier in diesem Raum ihr erstes Deutsch lernen. Drei Monate lang, dann geht‘s in die reguläre Schule.

„Hier geht es um viel mehr als nur um die Sprache“, erklärt Susanne Becker von der Stadtteil-Schule, die diese so genannten Intensivvorkurse mit koordiniert und betreut. An 17 Grundschulen finden solche Kurse statt, drei pro Schuljahr, und das seit zweieinhalb Jahren. Das Geld kommt vom Bildungsressort. Geleitet und betreut werden die Kurse nicht von Lehrern im Schuldienst, sondern von PädagogInnen fünf freier Träger: des ASB, der AWO, der BEK, VHS, der Caritas und der Stadtteil-Schule e.V. Sechs bis acht Kinder im Grundschulalter pro Kurs lernen Deutsch. Aber vor allem kommen sie an: in der Fremde.

„Das dauert bei manchen Kindern sehr lange“, sagt Susanne Becker, „und Heimweh ist bei allen ein Thema.“ Wie bei Nana aus Ghana. „Ein stolzes und unabhängiges Kind“ sei die Neunjährige, schreibt ihre Lehrerin. In der Schule in Ghana wurde Nana vor allem geschlagen. Nach Deutschland kam das Mädchen mit seiner Mutter, die sagte: „Education is the first“. Nana lernte Deutsch und irgendwann erzählte sie, dass es zuhause in der Zweizimmerwohnung im siebten Stock in Tenever so langweilig sei: keine Freunde, kein Leben auf den Straßen wie in Ghana. „Mein liebes Kind“, notierte da die Lehrerin für sich, „wie soll ich dir erklären, dass du hier nicht unbedingt auf der sonnigeren Seite angekommen bist.“

Viele Kinder in den Intensivvorkursen sprechen mehrere Sprachen. Wie Sara, 10, die in Bagdad ein Jahr lang die Wohnung nicht verlassen hat. Sie spricht assyrisch und arabisch. Oder Sahla, 11, aus Pakistan, die Urdu und Englisch spricht und in Bremen „mit rasantem Tempo und viel Eifer deutsch lernte“.

Viele Kinder sind verstört oder gar traumatisiert. So wie Jelena, 7, die bei der Flucht aus Tschetschenien mit Schlafmitteln betäubt war, die nachts oft weinend aufwachte und verzweifelte, wenn ihre Mutter bei Unterrichtsende noch nicht vor der Schule wartete.

„Diese Kinder brauchen Zeit“, betont Susanne Becker – Zeit, die ihnen im normalen Schulbetrieb viel zu wenig gegeben werde. „Da muss ein Kind funktionieren“, so Becker, „aber diese Kinder können bei dem geforderten Lerntempo nicht mithalten, weil sie noch ganz was anderes abzuarbeiten haben.“ Das Ankommen nämlich, und das, was sie davor erlebt haben. „Nicht alle sind von den Kindern begeistert. Es gibt Rassismus an den Schulen“, sagt Becker und meint damit manche Lehrer, in deren Klassen die Kleinen später kommen.

Kinder, die erlebt haben, was viele der Vorkurs-Schüler hinter sich haben, sind oft anders. „Schwierig“ will Susanne Becker das nicht nennen. „Ich sag das anders: Das sind Kinder, die schwierig für uns sind.“ Aggressiv, traurig, aufgedreht, abwesend oder sehr still, die Palette der Verhaltensweisen ist umfangreich. Das Rezept lautet: Raum geben. „Die Kinder akzeptieren wie sie sind und Mitgefühl mit ihrem Schicksal zeigen, Raum schaffen für die eigene Geschichte“, steht in einem Text über die Arbeit in den Vorkursen.

Malen, Zeichnen, Stifte halten – die Welt deutscher Kinder ist meist nicht die der kleinen Ankömmlinge. Dafür haben sie viel Gefühl für Musik, für Rhythmus, für die Vielfalt von Farben. So steckt im Vorkurs-Unterricht viel Bewegung – Migration ist schließlich auch Bewegung. Ballspiele, Bewegung nach Musik, Tierpantomimik, Gleichgewichtsübungen, gemeinsam Essen zubereiten in den jeweils verschiedenen Kulturen stehen auf dem Programm. Und rausgehen in das neue fremde Land. Einmal die Woche fahren die Vorkurs-Kids zur Ohlenhof-Farm, streicheln und füttern die Tiere, reiten eine Runde, gucken zu, wie die Henne Eier legt und machen später Rührei. Über diese Art von Kontakt gewinnen sie Zutrauen.

Die Arbeit der Migrantenvorkurse wurde dokumentiert: Die Filmemacherin Sabine Peter hat den Kindern aus den vielen verschiedenen Nationen zugesehen bei ihren Ausflügen zum Ohlenhof, hat sie zu Wort kommen lassen, sie aufgenommen, wie sie mit Obst das Zählen lernen und später den Obstsalat genießen, und hat viele Beteiligte berichten lassen, wie die Realität von Migrantenkindern aussieht. Der 30-minütige Film wurde kürzlich in der Schauburg gezeigt.

Susanne Becker hat bei dem Film mitgewirkt. Sie hat außerdem die Arbeit der Kurse ausführlich dokumentiert. Sogar erste Schreibübungen sind in der dicken Mappe: Lernerfolg auf liniertem Papier. Ein Mädchen lernt seinen Namen schreiben, aus einem ersten unbeholfen gekrakeltem „Hamdia“ wird bald „Hamdiya“, aus der „Tomte“ bald die „Tomate“. Und was aus „Elasnrmiot“ wird – das werden die Kinder bestimmt noch auflösen.

Susanne Gieffers

Der Film „Ankommen in der Fremde – Ahmed, Ivana und Sari lernen Deutsch“ von Sabine Peter ist als VHS und DVD erhältlich bei der Stadtteil-Schule e.V.: ☎ 39 24 48